DGIV fordert radikalen Umbau des Sozialgesetzbuchs V

09.06.2021, Sven C. Preusker
Politik & Wirtschaft

Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen (DGIV) hat jetzt ein Positionspapier zur Bundestagswahl 2021 vorgelegt. Zentrale Forderung ist die Etablierung eines eigenständigen Kapitels im Sozialgesetzbuch V, das explizit die Versorgung von Menschen mit intersektoralem, interdisziplinärem und interprofessionellem Behandlungsbedarf ins Zentrum rückt.

„Wir stehen vor der großen Herausforderung, die Orientierung des Gesundheitssystems am konkreten Versorgungsbedarf vor allem chronisch kranker Patientinnen und Patienten neu auszurichten“, so der DGIV-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. mult. Eckhard Nagel. Das aktuelle System sei aus historischen Gründen stark an der Akutversorgung orientiert. „Wir lassen dabei aber außer Acht, dass die Versorgung von Patienten mit dauerhaftem Behandlungsbedarf über die Grenzen von Sektoren und Professionen hinweg heute im Kern die Leistungs- und Kostenstruktur des Systems bestimmt.“ Die Bundestagswahl müsse zum Wendepunkt für eine Versorgung der Zukunft werden, fordert der DGIV-Vorsitzende. Ziel sei ein Modell der integrierten, sektorenunabhängigen Versorgung, das auch komplexe Lagen der Akutversorgung angemessen bewältigen könne.

Rechtsrahmen muss massiv vereinfacht werden

Zur konkreten Umsetzung dieses Ansatzes spricht sich die DGIV für eine drastische Vereinfachung des bisherigen Rechtsrahmens durch Formulierung eines eigenständigen Kapitels für Menschen mit interdisziplinären, intersektoralen und interprofessionellen Behandlungsbedarf aus. „Wir müssen die überkommene Ausrichtung des SGB V an der Akutversorgung um Passagen erweitern, die eindeutig, umfänglich und kompakt den heutigen Versorgungsbedarf adressieren“, so Nagels Analyse. Erst wenn ein solcher Versorgungsansatz klar umrissen verankert sei, würden auch die Gesundheitsprofis auf allen Ebenen wieder in die Lage versetzt, bessere, am Patienten orientierte Medizin zu machen und nicht mehr künstlich gewachsene Verwaltungsgrenzen zu bedienen. „Das ist aus unserer Sicht auch eine zentrale Motivation für die nachfolgende Generation von Gesundheitsprofis“, so Nagel.

Zum bestehenden Rechtsrahmen für sektorenübergreifende Versorgung schreibt die DGIV in ihrem Papier, es sei ein „kaum zu überblickender Paragraphendschungel von etwa 30 Einzelregelungen im SGB V (und den entsprechenden untergesetzlichen Verordnungen und Bundesmantelverträgen)“ entstanden, die alle die Sektorengrenzen adressieren bzw. sich zum Ziel setzen würden, diese zu überwinden. Die Administration patientenorientierter Versorgungsansätze dürfe nicht länger aufwendiger sein als die Versorgung selbst, so die Forderung der DGIV. Jeder Aufbau eines Versorgungsansatzes entspreche der Gründung eines mindestens mittelständischen Unternehmens. Es sei Akteuren und Investoren schlicht nicht zuzumuten, Engagement und Finanzen in einer Branche zu investieren, die sich den politischen Geschicken der jeweiligen Regierungskonstellationen ausgesetzt sehe. 

Nur durch eine substantielle Neuformulierung des SGB V könne der an der Akutversorgung orientierten Grundtendenz eine dem heutigen Bedarf angemessene Formulierung entgegengestellt werden, heißt es in dem Papier. Geregelt und geändert werden müssten in diesem Kontext aber auch alle Textteile des Gesetzbuches, die ambulant und stationär nicht nur explizit ausformulieren, sondern die die beiden Versorgungssektoren implizit zu Gegnern machen würden, weil sie ihnen unterschiedliche Planungs- und Regelungshoheiten zugrunde legten. Dies betreffe vor allem die Bereiche Vergütung, Bedarfsplanung, Qualitätssicherung und Aufsicht. In diesem Zusammenhang seien auch die Fragen von Erlaubnis- und Verbotsvorbehalt neu zu regen.

Neben den notwendigen Anpassungen im SGB V schlägt die DGIV vor, die Entscheidungen über die Strukturen und Abläufe einer interdisziplinären, intersektoralen und interprofessionellen Versorgung auf eine eigene, rechtlich abgesicherte Versorgungsebene zu übertragen. In der Formulierung dieses neuen dynamischen Versorgungsbereichs werde erkennbar, dass sich auch der Proporz im Gemeinsamen Bundesausschusses nicht mehr an der bisherigen Zusammensetzung der Bänke werde orientieren können. Langfristig werde aus Sicht der DGIV eine Überwindung der Sektorengrenze nur dann erfolgreich gelingen, wenn auch in der gemeinsamen Selbstverwaltung das Denken in ambulant und stationär obsolet geworden sei. In diesem Zusammenhang regt die DGIV an, diesen Intermediären Versorgungsbereich entweder mit einem eigenen Vertretungsanspruch in der gemeinsamen Selbstverwaltung zu implementieren oder das bereits erwähnte, neue Kapitel des SGB V außerhalb der gemeinsamen Selbstverwaltung und nicht mehr ausschließlich auf Bundesebene auszugestalten. So könnten und sollten beispielsweise Fragen der Zulassung und der Bedarfsplanung – bei entsprechender bundesweiter Rahmensetzung – deutlich besser und angemessener in regionaler Kompetenz entschieden werden.

Grundlage eines solchen Systemumbaus müsse ein einheitlicher Finanzierungsrahmen und eine umfängliche Digitalisierung auf der Basis geschützter interner Kommunikationswege sein: „Eine übergreifende Finanzierung und eine interoperable digitale Infrastruktur sind die Voraussetzungen für ein neues Versorgungsparadigma, das sich an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten einer alternden Gesellschaft orientiert“, so Nagel.

Zehn politische Forderungen

Die DGIV leitet aus den Überlegungen und Vorschlägen zehn politische Grundforderungen für die kommende Legislaturperiode ab:

  1. Orientierung des Gesundheitssystems am konkreten Versorgungsbedarf vor allem chronisch kranker Patientinnen und Patienten.
  2. Vereinfachung des SGB V durch Formulierung eines eigenständigen Kapitels „für Menschen mit interdisziplinären, intersektoralen und interprofessionellen Behandlungsbedarf“.
  3. Freiheiten für die Versorgungsakteure und Vertragspartner zur Ausgestaltung und Weiterentwicklung regionaler Versorgungstrukturen am konkreten Bedarf vor Ort.
  4. Vereinheitlichung der Aufsichtssituation für alle Krankenkassen
  5. Streichung der Wirtschaftlichkeitsprüfung für neue Versorgungsansätze. Aufsichtsrechtliche Orientierung ausschließlich an evaluierten, patientenorientierten Ergebnissen.
  6. Weiterentwicklung der gemeinsamen Selbstverwaltung durch einen reformierten und erweiterten Gemeinsamen Bundesausschuss und durch gestärkte regionale Entscheidungsgremien.
  7. Bestandssicherung für alle bislang entwickelten und positiv evaluierten intersektoralen Versorgungsansätze.
  8. Etablierung einer allen Akteuren zugänglichen interoperablen digitalen Infrastruktur auf der Grundlage geschützter interner Kommunikationswege.
  9. Aufbau datenschutzrechtlicher Rahmenbedingungen, die die Patientensouveränität und die Patientensicherheit in den Mittelpunkt stellen.
  10. Etablierung integrierter Konzepte und Modellversuche zu einer gemeinsamen Grundausbildung aller akademischen Gesundheitsberufe.

Das vollständige Positionspapier der DGIV steht hier zum Herunterladen zur Verfügung (PDF-Datei).

Neues Buch zum Thema im August

Auch der medhochzwei Verlag befasst sich intensiv mit dem Thema der sektorenübergreifenden Versorgung. Im August wird ein neues Buch zum Thema mit dem Titel „Zukunft Gesundheit – regional, vernetzt, patientenorientiert“ erscheinen. Rolf Stuppart, Mitherausgeber des Buchs, kommentierte: „Über 30 Jahre professionelle Erfahrungen, aber auch als direkt und zuweilen akut Betroffener mit unserem Gesundheitssystem zeigen mir und anderen in vielen Facetten auf, dass dieses System bei allem Fortschritt zu sehr segmentiert, zu sehr Institutionen- und Organisationsorientiert ist und eben nicht interprofessionell durchlässig und flächendeckend integriert im Sinne einer konsequenten Patientenorientierung funktioniert. Patientinnen und Patienten stehen noch zu sehr nur proklamatorisch und ausschnitthaft „im Mittelpunkt“. Dies wird mit zahlreichen Autorinnen und Autoren in unserem im August erscheinenden Buch „Zukunft Gesundheit – regionalisiert, vernetzt, patientenorientiert“ aufbereitet und mit Lösungsvorschlägen für den weiteren gesundheitspolitischen Diskurs für künftige Reformmaßnahmen aufgegriffen.“

Im Vorwort des Buchs heißt es: „Schauen wir in die Flächenrealität des gesundheitlichen Versorgungssystems, so agiert dieses zu großen Teilen als ein segmentiertes, institutionen- und organisationszentriertes Behandlungssystem für Krankheiten, nach dessen Strukturen und Prozessen die Bürgerinnen und Bürger, wenn sie denn Patientenstatus erlangen, sich auszurichten haben und nicht etwa umgekehrt. Prävention und Gesundheitsförderung sind unterbelichtet. Krankheit lohnt sich implizit offenbar auch wirtschaftlich mehr. Das Ganze wird vorwiegend getriggert durch ein umfassendes sozialrechtliches Normenpaket und dessen taktisch-strategische Auslegung und Anwendung durch Selbstverwaltung, Kosten- und Leistungsträger vor dem Hintergrund einer spezifischen Finanzierungslogik, die eher eine Preis-, denn eine Versorgungsorientierung mit sich bringt. Der Patient, die Patientin stehen im Mittelpunkt, heißt es immer wieder, sie tun es faktisch flächendeckend aber nicht.“

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