In der Digitalisierung des Gesundheitswesens steckt viel ungenutztes Potenzial

13.08.2022, Sven C. Preusker
Digital Health

Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen birgt laut einer Studie des Beratungsunternehmens McKinsey & Company ein „Nutzenpotenzial“ von rund 42 Milliarden Euro pro Jahr. Unter dem Titel „Digitalisierung im Gesundheitswesen: die 42-Miliarden-Euro-Chance für Deutschland“ wurde jetzt die Nachfolgestudie zu einer ersten Untersuchung 2018 veröffentlicht, die damals das Potenzial auf rund 34 Milliarden Euro jährlich beziffert hatte – einen Bericht dazu gab es z.B. in der Ausgabe 20/2018 von „Klinik Markt inside“. Damals hatte McKinsey in Kooperation mit dem Bundesverband Managed Care (BMC) die finanziellen Vorteile der Digitalisierung quantifiziert – untersucht wurde damals das Nutzenpotenzial von 26 verfügbaren digitalen Gesundheitstechnologien. Dabei seien bis jetzt lediglich rund 1,4 Milliarden Euro des Potenzials erschlossen, heißt es nun von den Autoren. Mit der Steigerung der Gesundheitsausgaben sei auch das Nutzenpotenzial gestiegen, und zwar um 3,7 Milliarden Euro im Vergleich zu 2018. Auch sei der Effekt einiger Technologien (z.B. Telekonsultation) heute höher einzuschätzen, was das Nutzenpotenzial um weitere 5,8 Milliarden Euro steigen lasse.

Durch den Einsatz digitaler Technologien könnten Versorgungsqualität und Kosteneffizienz erhöht und gleichzeitig Behandlung und Betreuung von Patienten sowie die Arbeitssituation des Personals im Gesundheitswesen verbessert werden, heißt es. Das größte Potenzial würden dabei die elektronische Patientenakte (ePA), Onlineinteraktionen und -Terminvereinbarungen zwischen Arzt und Patient sowie die Fernüberwachung und -unterstützung von chronisch Erkrankten bieten. „Richtig eingesetzt kann die Digitalisierung im Gesundheitsbereich massiven Nutzen stiften. Wir reden von einer 42-Milliarden-Euro-Chance, von der alle im Gesundheitswesen profitieren könnten“, so McKinsey-Partner Stefan Biesdorf, Co-Autor der Studie, anlässlich der Vorstellung der Ergebnisse.

„Das Potenzial der Digitalisierung im Gesundheitswesen hat sich innerhalb von vier Jahren um rund acht Milliarden Euro oder 24 Prozent erhöht“, so McKinsey Junior-Partnerin Kristin Tuot, ebenfalls Mitautorin der Studie, zu den Ergebnissen. Sie verwies dabei auf die Vorgängerstudie von 2018, für die McKinsey nach eigenen Angaben erstmals auf Basis von mehr als 500 internationalen Forschungsdokumenten das finanzielle Potenzial von 26 verfügbaren digitalen Gesundheitstechnologien in Deutschland auf 34 Milliarden Euro beziffert hatte. Das bisher realisierte Potenzial sei zwar ein Erster, aber noch kein einschneidender Erfolg. Zudem sei das Potenzial angesichts weiter steigender Gesundheitsausgaben und der dynamischen Entwicklung der Digitalisierung seither gestiegen. So habe sich beispielsweise durch die Corona-Pandemie gezeigt, dass einige Technologien wie z.B. Online-Sprechstunden und -Terminvergaben einen erheblich größeren Nutzen hätten als 2018 vermutet.

Für die Studie wurde das Nutzenpotenzial von 26 digitalen Gesundheitstechnologien analysiert und in sechs Lösungskategorien zusammengefasst:

  • Online-Interaktionen, z.B. durch Telekonsultation oder Fernüberwachung und Managment chronisch Erkrankter. Diese Lösungen reduzieren vor allem den Zeitaufwand bei Patienten und Ärzteschaft.: 12 Milliarden Euro (2018: 8,9 Milliarden Euro) 
  • Umstellung auf papierlose Datenverarbeitung z.B. durch die elektronische Patientenakte und eRezept: 9,9 Milliarden Euro (2018: 9,0 Milliarden Euro)
  • Arbeitsabläufe/Automatisierung, z.B. durch die mobile Vernetzung von Pflegepersonal oder die auf Barcodes basierte Verabreichung von Medikamenten: 6,7 Milliarden Euro (2018: 6,1 Milliarden Euro)
  • Entscheidungsunterstützung durch Datentransparenz, z.B. durch den Einsatz von Software, um Doppeluntersuchungen von Patienten zu vermeiden: 6,4 Milliarden Euro (2018: 5,6 Milliarden Euro)
  • Patientenselbstbehandlung, z.B. durch Gesundheits-Apps oder digitale Diagnosetools: 4,6 Milliarden Euro (2018: ebenfalls 4,6 Milliarden Euro)
  • Patienten-Self-Service , etwa Onlineportale zur Terminvereinbarung: 2,5 Milliarden Euro (2018: ebenfalls 2,5 Milliarden Euro).

Eine zentrale Rolle bei der Digitalisierung spielt der Bereich digitale Gesundheit: 19,1 Milliarden Euro oder rund 45 Prozent des Gesamtpotenzials würden laut der Ergebnisse auf (patientenorientierte) digitale Gesundheitslösungen wie Onlineinteraktionen, Selbstmanagement und Self-Service entfallen. Diese Lösungen würden vor allem den Zeitaufwand bei Patienten und Ärzteschaft reduzieren, so die Autoren. 2018 lag der Anteil am Potenzial nur bei 39 Prozent; er sei in den vergangenen Jahren also deutlich gestiegen. Weitere 13,1 Milliarden Euro oder ca. 31 Prozent entfallen laut der Ergebnisse auf (leistungserbringer- und kostenträgerorientierte) E-Health-Lösungen wie Workflow-Unterstützung, Automatisierung, Ergebnistransparenz und Entscheidungsunterstützung. Die Kosten der Leistungserbringer würden dabei sinken, da sie mithilfe solcher Lösungen effizienter arbeiten könnten, schreiben die Autoren. Auch die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen werde indirekt reduziert: Eine effektivere medizinische Entscheidungsfindung verbessere die Behandlungsergebnisse, wodurch der Bedarf an nachgelagerten Behandlungen sinke. Im Vergleich zu 2018 sei der Potenzialanteil von E-Health-Lösungen gesunken (31 Prozent 2022 vs. 34 Prozent 2018), jedoch absolut weiter angestiegen. Die restlichen 9,9 Milliarden Euro oder 23 Prozent des Potenzials würden durch die Einführung von Enabler-Technologien entstehen, hieß es. Dazu zählen z.B. die ePA, E-Rezepte und andere Lösungen für einen papierlosen, standardisierten Datenaustausch. Ähnlich wie E-Health-Lösungen würden solche Technologien die Kosten von Leistungserbringern und Anbietern senken, da diese effizienter arbeiten könnten. Durch die bessere Verfügbarkeit von Informationen könnten auch unnötige Behandlungen und teilweise medizinische Fehler vermieden werden. 

Produktivitätssteigerung und Nachfragereduzierung

Das Gesamtpotenzial könne auch in Produktivitätssteigerung (61 Prozent) und Nachfragereduzierung (39 Prozent) unterteilt werden, so die Autoren. Die Produktivitätssteigerungen bei den Leistungserbringern (25,8 Milliarden Euro) verteilen sich auf die stationäre Krankenhausversorgung (12,4 Milliarden Euro), die ambulante Versorgung (11,1 Milliarden Euro) und andere Bereiche (2,3 Milliarden Euro), z.B. die Langzeitpflege. Als Beispiel wurde die Ressourcenverwaltung durch Radiofrequenz-Identifikation (RFID) genannt, diese könne beispielsweise die Effizienz des Personals und reduziere Inventarverluste in Akutkrankenhäusern verbessere.

Die Verringerung des medizinischen Bedarfs (16,4 Milliarden Euro) resultiere aus der Vermeidung unnötiger Doppeluntersuchungen oder einer Verlagerung hin zu weniger invasiven Untersuchungsmethoden. Das verbessere gleichzeitig die Qualität der Behandlung und die Patientenerfahrung. Als Beispiel nannte Tuot die Reduzierung der stationären Krankenhausaufenthalte chronisch kranker Menschen dank Fernüberwachung.

Die Digitalisierung verspreche darüber hinaus einen Nutzen auch für angrenzende Bereiche der Wertschöpfungskette. Ein besserer Datenaustausch z.B. eröffne die Möglichkeit einer gezielteren pharmazeutischen Forschung und Entwicklung mit einer entsprechend höheren Wirksamkeit von Therapien.

Potenzial nur minimal erschlossen

Bei den erschlossenen Potenzialen sieht es allerdings mau aus – wie schon oben erwähnt, hat das deutsche Gesundheitswesen laut der Ergebnisse durch Digitalisierung seit 2018 nur rund 1,4 Milliarden Euro p.a. Nutzen realisieren können. Mit ca. 60 Prozent entfällt dabei der größte Anteil auf den Bereich digitale Gesundheit, vor allem digitale Lösungen wie Online-Terminbuchungen (0,4 Milliarden Euro) oder Telekonsultation (0,2 bis 0,3 Milliarden Euro) würden verstärkt genutzt. Im Bereich E-Health, vor allem im Krankenhaus, gebe es hingegen bislang nur wenige digitale Anwendungsfälle; eine Ausnahme sei die Nutzung von künstlicher Intelligenz zur klinischen Entscheidungsunterstützung. Mit 0,1 bis 0,3 Milliarden Euro entfalle das größte realisierte Potenzial bei E-Health auf die mobile Vernetzung des Pflegepersonals, insbesondere in der Altenpflege und ambulanten Pflege, die vermehrt durch Software unterstützt werde, so die Autoren. Bei den Enabler-Technologien hätten in puncto Nutzenrealisierung ebenfalls noch keine großen Fortschritte erzielt werden können – zwar seien wichtige Lösungen wie die ePA eingeführt worden und das E-Rezept befinde sich in der Erprobung (Testphase gerade beendet). Doch aufgrund der bislang geringen Inanspruchnahme seien die Kostensenkungen begrenzt. Im April 2022 hätten z.B. weniger als ein Prozent der Patienten eine ePA eingerichtet. Insgesamt würden sich die realisierten Nutzenpotenziale bei den Enablers damit lediglich auf 0,3 Milliarden Euro belaufen – durch die Nutzung der ePA im stationären Bereich.

Größtes Potenzial in fünf Technologien

Betrachtet man die 26 digitalen Technologien im Einzelnen, sind laut der Untersuchung – wie auch 2018 – einige Technologien besonders relevant: Fünf der 26 priorisierten Technologien würden demnach mit fast 22 Milliarden Euro über die Hälfte des gesamten Nutzenpotenzials von 42 Milliarden Euro ausmachen. An der Spitze steht wie schon 2018 die ePA. Ihr flächendeckender Einsatz ermöglicht McKinsey zufolge einen Nutzen in Höhe von sieben Milliarden Euro, neun Prozent mehr als 2018. Auf den weiteren Plätzen folgen Telekonsultation (5,7 Milliarden Euro), Fernüberwachung chronisch kranker Menschen (4,3 Milliarden Euro), elektronische Terminvereinbarung (2,5 Milliarden Euro) und Tools für das Management chronisch Erkrankter (2,4 Milliarden Euro).

Die Autoren beschreiben drei zentrale Bereiche, in denen Schritte unternommen werden müssen, um das volle Potenzial der Digitalisierung im Gesundheitssystem ausschöpfen zu können: Die Schaffung von Grundlagen für einen Anstieg der Nutzerzahlen, die Beschleunigung der Nutzung und die Realisierung von Nutzen. Es sei nötig, ein zentrales Identitäts- und Konsentmanagement bereitzustellen. Dabei würden digitale Identitäten einen wichtigen Baustein für den Zugang zu Anwendungen der Telematikinfrastruktur, z.B. ePA oder E-Rezept bilden. Zur Beschleunigung der Nutzung müsse in Patient Journeys gedacht werden. Zur Realisierung von Nutzen könnten beispielsweise Anreize durch ergebnisabhängige Erstattung gesetzt werden. Der größte Teil der durch digitale Lösungen zu erreichende Nutzen (71 Prozent) werde voraussichtlich bei den Leistungserbringern ankommen, schreiben die Autoren. Auf Kostenträger selbst würden nur durchschnittlich 29 Prozent des Nutzenpotenzials entfallen. Im Rahmen des derzeitigen Wertepools der unterschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen könnte es daher sinnvoll sein, über einen Interessenausgleich nachzudenken, etwa über finanzielle Anreize. Denkbar wären z.B. ergebnisorientierte Erstattungen, um die Kostenträger zu entlasten, heißt es dazu. Dafür könnte als einfachste Metrik im ersten Schritt die tatsächliche Nutzung digitaler Lösungen herangezogen werden. Die Kopplung der Erstattung an Anwendungen, für die es Nutzer (Patienten/Leistungserbringer) und aktive Nutzung gibt, wäre eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme. Datenfreigaben könnten eine Nutzungsbewertung ermöglichen und den Grundstein für eine ergebnisabhängige Erstattung legen.

Es gelte jetzt, das im Zuge der Corona-Pandemie entstandene Momentum zu nutzen und die Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems gemeinsam mit allen Akteuren voranzutreiben, um so das volle Nutzenpotenzial zu realisieren, schließen die Autoren. Der zu erwartende Lohn für diese Anstrengungen sei groß: Die Digitalisierung werde Versorgungsqualität und Kosteneffizienz erhöhen sowie die Erfahrung von Patienten und Mitarbeitenden verbessern.

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