Kommentar zum medhochzwei Interview mit Prof. Dr. Martina Hasseler: „Pflegefachberufe werden nie als elementarer Teil der Gesundheitsversorgung verstanden“

26.08.2022, Prof. Dr. jur. Gerhard Igl
Interviews & Kommentare, Pflege, Politik & Wirtschaft

(Hier Interview mit Prof. Martina Hasseler nachlesen.)


Prof. Dr. iur. Gerhard Igl

Prof. Dr. Martina Hasseler liefert in ihrem Beitrag, was den analytischen Teil angeht, nichts Neues. Ärztedominanz im Gesundheitswesen, Vernachlässigung der Pflege, verkrustete Strukturen des Gesundheitswesens. Alles hinlänglich bekannt. Aber worum geht es? Sehen wir uns die Kernaussagen des Beitrags an: „Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Implementierung der Community Health Nurse an den Strukturen unseres Systems scheitern wird.“
So lautet eine der zentralen Aussagen im Beitrag von Hasseler. Zum Schluss: „Pflegefachberufe werden nie als elementarer Teil der Gesundheitsversorgung verstanden.

Die erste Aussage betrifft eine Einschätzung für die Zukunft. Die zweite Aussage ist eine Feststellung, auch mit einer Zukunftsvision versehen. Einschätzungen, die die Zukunft betreffen, können nie wissenschaftlich fundiert sein, sie können aber vor einem wissenschaftlichen Erfahrungs- und Wissenshintergrund entstehen, sind aber weit entfernt von jeder Evidenzbasierung. Der hier gepflegte Rigorismus ist deshalb unangebracht. Damit könnte man die beiden Einschätzungen als persönliche Meinung einer anerkannten Pflegewissenschaftlerin einordnen oder abtun.

Aber es geht nicht darum, diese Einschätzungen zu teilen oder als fragwürdig abzutun. Es geht darum, diese Einschätzungen mit der Realität des pflegepolitisch wirksamen Handelns zu konfrontieren. Sicher, die Pflege (wenn man überhaupt von „der Pflege“ sprechen kann) hat es immer schwer gehabt. Aber sie hat es, wenn auch langsam und mühsam, immer geschafft, im politischen Raum Aufmerksamkeit zu finden, was sich in politischen Realisierungen niedergeschlagen hat. Und politische Realisierung meint in einem hochreglementierten Gesundheits- und Pflegewesen vor allem Umsetzung in Gesetze. Das Krankenpflegegesetz von 1985 war schon damals Ausweis eines ziemlich fortschrittlich gesinnten Pflegeverständnisses. Das Altenpflegesetz von 2000 hat es bis zum Bundesverfassungsgericht geschafft und hat dort auf der Basis eines doch sehr fortschrittlich gesinnten Pflegeverständnisses, genährt durch Gutachten namhafter Pflegewissenschaftler:innen, zu einem weiteren Fortschritt geführt. Das Pflegeberufegesetz von 2019 wurde zwar um die einheitliche Pflegeausbildung beschnitten. Aber auch dieses Gesetz hat einen ganz wesentlichen Fortschritt gebracht, nämlich die neu eingeführten vorbehaltenen Aufgaben, die – auch unter Ausschluss der Ärzte – nur den Pflegefachberufen vorbehalten sind. 1998, als mit den ersten rechtswissenschaftlichen Äußerungen behutsam für die Einführung von vorbehaltenen Aufgaben für die Pflege plädiert worden ist, hätte niemand auch nur im Entferntesten eine Wette abgegeben auf die heute fast wie selbstverständlich wahrgenommenen Vorbehaltsaufgaben für die Pflege.

Angesichts dessen kann keine Rede davon sein, dass die Pflege politisch nicht wahrgenommen wird. Sicher wird sie nicht hinreichend wahrgenommen. Trotzdem: Die Liste der Errungenschaften in der Pflegepolitik könnte weitergeführt werden: Im SGB XI sind als Prüfpersonen für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht nur Ärzte, sondern auch Pflegefachpersonen genannt. Die Einführung der Qualitätssicherung der Pflege nach dem SGB XI war ein damals wohl einmaliger Schritt zur Hinführung der Pflege in die Qualitätssicherungsthematik. Vorher war Qualitätssicherung ein Fremdwort für die Pflege. Qualitätssicherung gab es schlicht nicht. Weiter: Die Übertragung von selbstständig auszuübenden ärztlichen Tätigkeiten an Pflegefachpersonen im Rahmen von Modellvorhaben war sicher von Mühseligkeiten geprägt. Jetzt scheinen die dazugehörigen Projekte auf den richtigen Weg zu kommen.

Zwei Themen sind noch nicht auf dem Wege der Vollendung. Dazu gehören die in einer echten Mitbestimmung resultierende Beteiligung der Pflegefachberufe im Gemeinsamen Bundesausschuss. Immerhin haben die Pflegefachberufe dort schon eine beratende Stimme, was anderen Gesundheitsfachberufen bisher versagt geblieben ist. Weiter bereitet die Pflegekammersituation Sorgen. Zu behaupten, die Pflegekammerbewegung sei tot, wie jüngst geschehen, beruht auf einer Einschätzung, die nicht den Tatsachen entspricht (so ist zum Beispiel die Pflegekammer Rheinland-Pfalz sehr erfolgreich in ihrem Wirken). Aber es ist zu konstatieren, dass auch hier der Weg mühselig ist.

Was ist daraus zu folgern? Wer heute angesichts eines durchaus nicht einfachen gesundheitspolitischen Umfelds für die Pflege wie Prof. Dr. Martina Hasseler in einer Art vorauseilenden Gehorsams alles aufgibt, was die Pflege für die Zukunft benötigt, und dazu gehört auch die Wahrnehmung der Pflege als elementarer Teil der Gesundheitsversorgung, nimmt nicht wahr, was über die letzten 40 Jahre in der und für die Pflege bewirkt worden ist. Wenn man die Äußerungen von Hasseler in der letzten Konsequenz ernst nehmen würde, würde das nichts anderes heißen als: Denkt nicht mehr über die Möglichkeiten der Installierung von Community Health Nursing nach, denkt nicht mehr über die Übertragung, und nicht nur Delegation von heilkundlichen ärztlichen Tätigkeiten nach. Denkt nicht mehr darüber nach, wie notwendig Pflegekammern für die berufliche und berufspolitische Formierung sind. Denn wer will schon über Dinge nachdenken, die nicht zu ändern sind, und dafür auch noch vorbereitende Arbeit investieren.

Hilfreich wären vielmehr Beiträge dazu und darüber, wie man der Pflege politisch, gesundheitspolitisch und in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für das Gesundheitswesen weiterhelfen könnte. Auch die Pflegewissenschaft (eine neue Wissenschaft, die sich bisher noch nicht auf einen Kanon, außer vielleicht der Evidenzbasierung und der Pflegeprozessgestaltung, einigen konnte), könnte die „Pflege“ dabei unterstützen, Wege aus den Schwierigkeiten der Pflege gegenüber einer ärztedominierten Gesundheitspolitik zu suchen und zu finden. Mit einem „geht eh nicht“ ist der Pflege nicht geholfen.

Schlussendlich: Pflegepolitik war immer dann erfolgreich, wenn sie den wagemutigen und beharrlichen Blick nach vorne gerichtet hat. Die Erfolge sind ablesbar. Zufrieden sollte man sich mit diesen Erfolgen nie geben, aber man sollte sie als Beweisstücke dafür anführen, dass es möglich ist, auch der Pflege ihren gebührenden gesundheits- und versorgungspolitischen Platz einzuräumen. Sicher ist es leichter, auf aktuelle Probleme der Pflege zu verweisen. Schwieriger ist es, und letztlich Aufgabe auch der beteiligten Wissenschaften wäre es, der Pflege die Wege zu weisen, die gangbar sind, und vor allem, wie sie gangbar gemacht werden können.


Prof. Dr. iur. Gerhard Igl arbeitete ab 1976 als wissenschaftlicher Referent am Max-Planck- Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. Ab 1985 war er Professor an der Universität Hamburg, 1996 wechselte er an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wo er bis zu seiner Pensionierung im September 2014 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht innehatte und geschäftsführender Vorstand des Instituts für Sozialrecht und Gesundheitsrecht war. Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem im deutschen und europäischen Sozialrecht, im Gesundheits- und Pflegerecht, im Recht der älteren Menschen und im Recht des bürgerschaftlichen Engagements. Er ist Vorstandsmitglied des Vereins zur Förderung eines Nationalen Gesundheitsberuferates e.V.

Als Autor des medhochzwei Verlags hat er Kommentare zu den Heilberufegesetzen veröffentlicht. Gerade erschienen ist sein Kommentar zum Gesetz über die Berufe in der medizinischen Technologie.

Anzeige
Anzeige