SVR-Gutachten: Umsetzungsdefizite verhindern resilientes Gesundheitssystem

26.01.2023, medhochzwei
Politik & Wirtschaft, Digital Health, Versorgung, Coronavirus

Vor dem Hintergrund der multiplen Krisen, die Deutschland momentan herausfordern, hat der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege (SVR) die Krisenfestigkeit des Gesundheitssystems genauer untersucht. Die Ergebnisse sind in dem jetzt veröffentlichten Gutachten unter dem Titel „Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“ festgehalten, das kürzlich Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) überreicht wurde.

Im Ergebnis zeige sich, so der SVR in seiner Untersuchung, dass die vor den momentanen Krisen häufig anzutreffende Selbstwahrnehmung, dass in Deutschland alles gut organisiert sei und man angesichts eines ausdifferenzierten Rettungs- und Gesundheitssystems bestens auch auf unvorhergesehene Entwicklungen vorbereitet sei, trügerisch gewesen und dies auch nach wie vor sei. Das deutsche Gesundheitssystem sei sehr komplex und fragil, ein nicht sehr reaktionsschnelles, wenig anpassungsfähiges „Schönwettersystem“, das nicht nur im Krisenfall unzureichend koordiniert und im Ergebnis häufig schlechter sei, als angesichts des hohen Mitteleinsatzes zu erwarten wäre. Weder auf Folgen des Klimawandels noch auf Pandemien sei das deutsche Gesundheitssystem ausreichend vorbereitet. Das gelte auch für andere bekannte und – wahrscheinlich erst recht – für noch unbekannte krisenhafte Herausforderungen.

Der SVR-Vorsitzende Prof. Ferdinand Gerlach fasste die Ergebnisse und Lösungsvorschläge so zusammen: „Aus den aktuellen Krisen wurden bislang nicht die notwendigen Schlüsse gezogen. Was den überfälligen Strukturwandel insbesondere in der Krankenhausversorgung und die Krisenvorbereitung angeht, haben wir weniger ein Erkenntnis- als ein Daten- und Umsetzungsdefizit. Das darf nicht so bleiben.“ Das „behäbige Schönwettersystem“ leide unter unzulänglicher Digitalisierung und einem formaljuristisch leerlaufenden Datenschutzverständnis. „Zugleich ist dieses System zwischen Bund, Ländern und Landkreisen bzw. Kommunen unzureichend koordiniert – nicht nur im Krisenfall. Das Ergebnis ist häufig schlechter, als angesichts des hohen Mitteleinsatzes zu erwarten wäre. Weder auf Folgen des Klimawandels noch auf Pandemien ist unser Gesundheitssystem ausreichend vorbereitet. Hier müssen wir dringend die Krisenfestigkeit oder, wie man heute auch gerne sagt: die Resilienz, stärken.“

Ratsmitglied Prof. Petra Thürmann betonte: „Insbesondere müssen die Möglichkeiten der Digitalisierung umfassend genutzt werden. Wir müssen die verantwortliche Datennutzung zur Verbesserung der Versorgung und der epidemiologischen Lageanalyse dringend vereinfachen. Die entsprechenden Möglichkeiten der EU- Datenschutzgrundverordnung sollten endlich auch in Deutschland umgesetzt werden. Seitenlange Einwilligungserklärungen bieten keine Datensicherheit. In der SARS-CoV-2-Pandemie war Deutschland weitgehend im Blindflug unterwegs. Bei den Verläufen und Folgen von Infektionen, Behandlungen und Impfungen mussten wir uns häufig auf wesentlich bessere Daten z.B. aus Dänemark oder Israel verlassen.“

Der Sachverständigenrat hob hervor, dass es für viele Bereiche und Herausforderungen bereits gute Analysen und konkrete Konzepte zur Resilienzstärkung gebe: zum Beispiel Pandemie- oder Hitzepläne. Aber sie verstaubten oft in Schubladen anstatt konsequent umgesetzt und eingeübt zu werden.

Da krisenhafte Herausforderungen in ihrer Art nicht vorhersagbar sind, zeitgleich oder gehäuft auftreten können und oft viele Lebensbereiche gleichzeitig betreffen, empfiehlt der Rat einen All-Gefahren-Ansatz („all hazards“). Im Hinblick darauf, dass Gesundheit von vielen anderen Lebens- und damit Politikbereichen – etwa Umwelt, Arbeit, Wohnungs- und Städtebau, Verkehr, Wirtschaft und Bildung – beeinflusst wird, fordert er darüber hinaus, das übergreifende Prinzip Gesundheit in allen Politikbereichen („Health in All Policies“) zu stärken.

Der SVR beleuchtet im Gutachten einzelne Versorgungsbereiche wie den Öffentlichen Gesundheitsdienst, die Akutversorgung und die Langzeitpflege. Aktuell zeige sich die Akutversorgung in Deutschland in vielen Bereichen redundant, wenig vernetzt und nicht (mehr) bedarfsgerecht, schreiben die Gutachter. Es gelte daher, die Strukturen ressourcenschonend an veränderte Bedarfe anzupassen. Personelle und materielle Ressourcen müssten kurzfristig so koordiniert werden können, dass die Versorgung aufrechterhalten und an einen akuten Bedarf angepasst werden kann.

Schlüsselfunktion für die Akteure der primären Gesundheitsversorgung

Die Gutachter sehen für die Akteure der primären Gesundheitsversorgung zukünftig eine Schlüsselfunktion in der Koordinierung der geforderten (sektorenübergreifenden) regionalen Versorgung. Beispielsweise könne hierfür das Berufsbild der Community Health Nurse etabliert werden, heißt es weiter. Community Health Nurses sollten in primärärztliche oder sektorenübergreifende Strukturen integriert werden, in denen eine teamorientierte Zusammenarbeit verschiedener ambulanter Leistungserbringer, z. B. mit den Hausärztinnen und -ärzten, ermöglicht und gefördert werde. Mit einer Etablierung dieses Berufsbildes sollte der Um- und Ausbau vernetzter ambulanter Versorgungsstrukturen einhergehen.

Andernfalls würde ein weiterer Versorgungssektor und damit eine weitere Schnittstelle geschaffen werden, welche die Koordination nicht erleichtern, sondern verkomplizieren würde. Eine solche teamorientierte Kooperation und Koordination bedürfe einer digitalen Vernetzung der Leistungserbringer innerhalb der und zwischen den verschiedenen Sektoren. Zwingend erforderlich sei daher auch die Förderung und Implementation digitaler Systeme wie digitaler Informations- und Dokumentationssysteme sowie der ePA. Zentrale Portale, die bei der Überwachung und Koordination von Kapazitäten in Echtzeit unterstützen, müssten aufgebaut und nicht zuletzt telemedizinische sowie Monitoring-Angebote ausgebaut werden, so der Rat.

Der SVR hatte bereits in seinem Gutachten 2018 Vorschläge für eine gestufte Versorgung und damit verbundene Finanzierung des stationären Sektors gemacht. Die Regierungskommission knüpfe mit ihren Empfehlungen, die Bund und Länder in ihren anstehenden Beratungen über die Krankenhausreform als Grundlage verwenden werden, daran an, hieß es in einer Mitteilung zum Gutachten.

Insgesamt sollte eine Resilienzstrategie für das Gesundheitssystem auf eine systemische Resilienz abzielen und soziale und wirtschaftliche Erwägungen mit berücksichtigen, so die Sachverständigen. Eine umfassende Resilienzstrategie decke dabei folgende Krisenphasen ab: a) Vorbereitungsphase, b) rechtzeitige Erkennung des Schocks, c) Wirkung und Bewältigung des Schocks, d) Erholung und Lernen. Gute Vorbereitung antizipiere Krisen und wendet sie durch gezielte Präventionsmaßnahmen so weit wie möglich frühzeitig ab. Eine krisentaugliche Fehlerkultur, die flexible Reallokation von Ressourcen und die kurzfristige Ausweitung von Kapazitäten müssten vorbereitet und geübt werden.

AOK teilt SVR-Kritik

Die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Dr. Carola Reimann, kommentierte das Gutachten wie folgt: „Wir teilen die Kritik des Sachverständigenrats, dass das deutsche Gesundheitswesen in vielen Bereichen nicht nachhaltig und krisenfest aufgestellt ist. Auch wenn Deutschland vergleichsweise gut durch die Krise gekommen ist, hat die Pandemie wesentliche Schwachstellen offenbart. Dazu gehören unklare Zuständigkeiten, personelle Engpässe und ein Mangel an Datentransparenz.“ Das Gutachten enthalte gute Ansätze, wie das System besser auf die Bewältigung von Krisensituationen vorbereitet werden könne. An vielen Stellen weise es auf Reformnotwendigkeiten hin, die schon seit Jahren bekannt seien. „Wenn wir diese Baustellen endlich angehen, ist das ein wichtiger Beitrag zur Krisenresilienz des deutschen Gesundheitssystems.“

Die AOK-Gemeinschaft unterstütze vor dem Hintergrund der begrenzten personellen Ressourcen im deutschen Gesundheitswesen ausdrücklich den vom Sachverständigenrat angesprochenen Ansatz zur Bildung integrierter regionaler Gesundheitszentren. Reimann: „Für die Bewältigung von Krisen ist es nicht ausreichend, einfach nur zusätzliche Intensivbetten aufzustellen und den Bestand an Beatmungsgeräten aufzustocken. Wesentlich ist, dass auch qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Wir stimmen dem Sachverständigenrat zu, dass es einen sinnvolleren Einsatz der vorhandenen Personalressourcen braucht – in sinnvoll geordneten Versorgungsstrukturen. Die Vorschläge der Regierungskommission zur Krankenhausreform verbinden die Reform der Vorhaltefinanzierung mit der Reform der Planung. Sie bieten hervorragende Ansätze dafür, dass wir bei der qualitätsorientierten Neuordnung der Krankenhausstrukturen endlich weiterkommen.“

Eine Zusammenfassung des Gutachtens steht hier zum Herunterladen zur Verfügung.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 02-2023. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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