Häusliche Pflege – Das Rückgrat der gesundheitlichen Versorgung

21.02.2023, Thomas Klie
Interviews & Kommentare, Pflege, Politik & Wirtschaft


Foto: © Marc Doradzillo (EH Freiburg)

Die Pflegeversicherung ist kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Das deutsche Pflegesystem geht insgesamt K.O., wenn es nicht diese außergewöhnliche Bereitschaft der deutschen Bevölkerung gäbe, sich der Pflege naher Angehöriger zu widmen. Das geschieht nicht immer unter Bedingungen, die zuträglich sind. Das geschieht auch nicht, sodass man auch nur annähernd von so etwas wie Geschlechtergerechtigkeit sprechen könnte. Gleichwohl beruht das deutsche Pflegesystem auf tief in den Grundhaltungen der Bevölkerung verankerten Solidaritätsbereitschaft. Die hat auch der DAK-Pflegereport 2022 wieder in aller Deutlichkeit herausgestellt – sowohl bei Jung und als auch bei Alt. Das ist angesichts der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse keineswegs selbstverständlich und hat auch uns als Forscher*innen überrascht.

Gleichwohl macht die wieder von Allensbach durchgeführte repräsentative Bevölkerungsbefragung deutlich: Die Bevölkerung ist einhellig der Meinung, die Politik tue zu wenig für die Pflege. Angesichts des unwürdigen Geschachers um die Finanzierung der Pflege, die aktuell zu verfolgen ist, wird die Pflegepolitikverdrossenheit der Bevölkerung sicherlich noch zunehmen. Ob für einen selber einmal gesorgt sein wird? Das sieht die Bevölkerung weiter skeptisch, setzt auf Pflege und Sorge zu Hause und durch die Partnerinnen und Partner, weniger die Kinder. Und was die Finanzierung der Pflegeversicherung anbelangt: Auch hier wird der Staat nicht aus seiner Verantwortung entlassen, aber auch die Notwendigkeit der eigenen Vorsorge anerkannt – aber vornehmlich bei den Besserverdienenden.

Wirklich realistisch setzt sich die Bevölkerung mit den Zukunftsszenarien der Pflege, auch das eine Erkenntnis des DAK-Pflegereportes 2022, nicht auseinander. Wie teuer eine unzureichende pflegefachliche und primärärztliche Versorgung der auf Pflege angewiesenen Menschen dem Gesundheitswesen zu stehen kommt, macht die von OptiMedis AG durchgeführte DAK-Routinedatenanalyse deutlich. Allein die DAK-Versicherten produzieren jährlich vermeidbare Krankenhauskosten in Höhe von 355 Millionen Euro; auf alle Kassen hochgerechnet wären dies 3,5 Milliarden: Nicht indizierte Krankenhauseinweisungen, die auf unzureichende häusliche Versorgungssettings und fehlende "Grundversorgung" zurückzuführen ist. Das macht der DAK-Pflegereport 2022 auch deutlich: Die Finanzierung des Gesundheitswesens und die dort notwendigen Strukturreformen sind von den in der Langzeitpflege in keinster Weise zu trennen. Deutschland hat das teuerste Gesundheitswesen, die meisten Krankenhausbetten pro Kopf der Bevölkerung in Europa, aber ein vergleichsweise unterfinanziertes System der Langzeitpflege. Hier muss es Ausgleich geben. Eine Krankenhausreform ohne eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung und der Pflegeinfrastruktur wird in einer fachlich vertretbaren Weise nicht möglich sein.

Die DAK hat sich im Pflegereport 2022 auch der Wirklichkeit der Pflegenden und der auf Pflege angewiesenen Menschen gestellt. In 33 qualitativen Interviews wurde Einblick in die Lebenswelt von Pflegehaushalten gewährt, die von AGP Sozialforschung ausgewertet und zusammengefasst wurden. Beeindruckende, zum Teil verstörende Geschichten, die den Handlungsbedarf der Pflegepolitik unterstreichen. Das Augenmerk der Pflegepolitik gehört nicht so sehr den Heimen, sondern viel mehr der häuslichen Pflege. Will man den Ausgangsbefund des DAK-Pflegereportes 2022 auch für die Zukunft sichern, muss in die häusliche Pflege investiert werden, muss ein neues und ein qualifiziertes Miteinander von Pflegekassen und Kommunen und einer gestärkten Profession der Pflege auf den Weg gebracht werden – nicht in Modellprojekten, sondern durch eine Strukturreform. Wie die aussehen kann, wird anhand von Beispielen aus den 16 Bundesländern in Good Practice illustriert. Sie unterstreichen den pflege- und gesundheitspolitischen Handlungsdruck aber auch Gestaltungsperspektiven.

Prof. Dr. Thomas Klie ist Rechts- und Sozialwissenschaftler sowie Gerontologe. Er war von 1988 bis 2021 Professor an der Evangelischen Hochschule Freiburg, er ist Privatdozent an der Alpen Adria Universität/IFF Wien und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Alter, Pflege und Zivilgesellschaft. Mit seinem renommierten Institut AGP Sozialforschung befasst er sich seit Jahrzehnten u. a. mit Fragen der Demenz, neuen Wohn- und Versorgungsformen und Menschenrechten in der Pflege. Als Rechtsanwalt praktiziert er bundesweit mit Büros in Freiburg und Berlin. Seit 2015 verantwortet er die DAK-Gesundheit Pflegereporte, so auch die aktuelle Ausgabe: Pflegereport 2022 – Häusliche Pflege – das Rückgrat der Pflege in Deutschland. Analysen, Befunde, Perspektiven.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 04-2023. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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