Monitoring Pflegepersonal Baden-Württemberg räumt mit gefühlten Wahrheiten auf

23.03.2023, Sven C. Preusker
Pflege, Politik & Wirtschaft

Das Institut AGP-Sozialforschung Freiburg und das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) Köln haben jetzt ein Monitoring Pflegepersonalbedarf für Baden-Württemberg vorgelegt. Gefördert wurde die Untersuchung durch das Sozialministerium Baden-Württemberg. Prof. Michael Isfort und Prof. Thomas Klie, Autoren des Monitorings, stellten die Ergebnisse auf vier Regionalveranstaltungen in den Regierungsbezirken Baden-Württembergs vor über 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern vor. 

Das Monitoring analysiert den Pflegepersonalbedarf für alle Sektoren der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung – von den Kliniken über die ambulante Versorgung bis hin zur Langzeitpflege, von der Kinderkrankenpflege bis zur Intensivmedizin. Die Personalbedarfsanalyse räumt dabei mit einigen die Pflegedebatte prägenden Narrativen auf: Ein „Pflexit“ lasse sich empirisch nicht nachweisen, so die Autoren. Die Beschäftigtenzahlen in der Pflege seien stabil, das gelte für alle Sektoren. Auch würden Pflegekräfte nicht nach kurzer Zeit wieder ihren Beruf verlassen: Weit über 70 Prozent der Pflegefachkräfte in Baden-Württemberg sind laut der Daten seit über zehn Jahren im Beruf.  Auch sei die Berufseinmündungsquote der Auszubildenden hoch, höher als in vielen anderen Berufen, so die Autoren.

Es sei ein absolut schlechtes Selbstmarketing der Pflegeberufe, aber auch der „Pflegeszene“ insgesamt, wenn sie ohne jegliche Empirie immer wieder die üblichen Narrative in den Medien bediene, die sowohl den Pflegeberuf, aber auch das Arbeitsfeld der Pflege diskreditieren würden, monierten die Autoren. An die Stelle dieser pauschalen und undifferenzierten „gefühlten Wahrheiten“ gehöre eine differenzierte Betrachtung des Pflegepersonalbedarfs. Und aus der Bedarfsanalyse und den Prognosen gelte es intelligente Antworten zu finden. Es müssten gesundheits- und pflegepolitische Rahmenbedingungen zum Teil grundlegend geändert werden.

Isfort betonte in den Regionalveranstaltungen die dreifache Treue der Pflege: Pflegekräfte sind berufstreu, sektorentreu und ortstreu. 15 Kilometer: Weiter darf die „Traumstelle“ in der Pflege nicht vom Wohnort entfernt sein, auch dieser Befund bestätigte sich empirisch aus den Pendleranalysen der Pflegekräfte in Baden-Württemberg. Es sei (noch) nicht der demografische Wandel in der Bevölkerung insgesamt, der einem große Sorge machen müsse: Der demografisch bedingte zusätzliche Bedarf an Pflege wird laut der Autoren erst ab 2035 mit aller Macht auftreten.

Konfrontiert sei man heute mit berufsdemografischen Effekten: Die Boomer-Pflegekräfte gehen in Rente. Sie hinterlassen eine große Lücke, sowohl was das Wissen anbelangt als auch zahlenmäßig. Hierauf Antworten zu finden, wird laut der Wissenschaftler nicht einfach sein. Für alle Regionen in Baden-Württemberg wurde eine Analyse der Schulabschlüsse einerseits und der Ausbildungskapazitäten andererseits vorgenommen. Diskutiert wurde die Bedeutung regionaler Ausbildungskapazitäten, die ohne Krankenhäuser seit Beginn der generalistischen Ausbildung laut der Autoren nicht mehr gewährleistet werden können. Insofern sei bei jeder Krankenhausschließung auch darüber nachzudenken, wie die Ausbildungskapazitäten in der Region erhalten bleiben können, denn der Arbeitsmarkt der Pflege sei ein lokaler.

Wie unterschiedlich die Herausforderungen der Beantwortung des Pflegepersonalbedarfs in Baden-Württemberg sind, machten die Regionalanalysen deutlich: Hier gibt es sehr große Unterschiede im sogenannten Versorgungssicherstellungsindex, der in der Studie erarbeitet wurde: Stuttgart steht gut da, andere Landkreise sind schon heute mit erheblichen strukturellen Herausforderungen konfrontiert, die auch von den Zuhörerinnen und Zuhörern bestätigt wurden. Insgesamt wird es in Baden-Württemberg trotz steigendem Bedarf in den nächsten Jahren nicht mehr, sondern weniger Pflegefachkräfte geben, errechneten die Wissenschaftler. Es werde kaum gelingen, auch mit Zuwanderung aus dem Ausland, den Bestand zu halten. Ein Stellenaufwuchs sei so  ausgeschlossen, das Versprechen besserer Personalausstattung entbehre jeder realistischen Perspektive, warnten die Autoren. Antworten auf den Pflegepersonalbedarf seien auch und gerade vor Ort und auf kommunaler Ebene zu finden. AGP Sozialforschung hatte für alle Land- und Stadtkreise in Baden-Württemberg Langzeitpflegeprofile vorgelegt, die deutlich machen, wie unterschiedlich der Pflegemix vor Ort beschaffen ist und wie unterschiedlich schon in der Langzeitpflege der Personalfaktor zu errechnen ist. Er ist dort am höchsten, wo die Heimquote am höchsten ist. Heime werden in der Zukunft keine Antwort mehr auf den zukünftigen Bedarf an pflegerischer Versorgung sein können, hieß es. 

Auf den vier Podiumsdiskussionen in den Regierungsbezirken, an denen Verantwortliche der Kommunen, der Arbeitsagenturen und Ausbildungsstellen, Kliniken und Langzeitpflegeeinrichtungen sowie Seniorenräte beteiligt waren, wurde deutlich: Die Kommunen brauchen verlässliche Daten wie sie im Monitoring vorgelegt wurden, um ihre Aufgaben der Pflegeplanung wahrnehmen zu können. Sie brauchen auch mehr Kompetenzen insbesondere in der Langzeitpflege, um besser steuern zu können. Und gefragt sind neben den Pflegefachberufen Assistenzberufe, und zwar nicht nur für die Pflege, sondern auch für die Hauswirtschaft und für die soziale Unterstützung. Gerade für Assistenzberufe gelte es auch Zuwanderer aus Drittstaaten zu gewinnen, so die Autoren. Hier müssten die zuwanderungsrechtlichen Voraussetzungen geregelt, Förderinstrumente der Arbeitsverwaltung entwickelt respektive geöffnet und Ausbildungskapazitäten geschaffen werden. Mehr Geld für die Pflege werde es wohl nicht mehr geben, konstatierten die Wissenschaftler. Insofern komme es auf Strukturreformen, auf sektorenübergreifende Versorgungskonzepte und darauf an, regional und kommunal konzertiert Antworten zu finden, wie dem künftigen und jetzt schon bestehenden Bedarf an Pflegekräften begegnet werden könne.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 06-2023. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

Anzeige
Anzeige