Interview mit Dr. Friedrich von Bohlen: „Deutschland hat ein Umsetzungsproblem“

05.05.2025, Sven C. Preusker
Interviews & Kommentare, Wissenschaft & Forschung, Prävention


Quelle: Privat

Dr. Friedrich von Bohlen hat Biochemie studiert und an der ETH Zürich in Neurobiologie promoviert. Er ist Mitgründer und Geschäftsführer der Molecular Health GmbH. Im Interview mit medhochzwei-Redakteur Sven C. Preusker spricht er über die Gefahren und Kosten, die durch Arzneimittelwechsel- und Nebenwirkungen entstehen, und mögliche Lösungen für diese kaum wahrgenommene, aber teure Problematik.

medhochzwei: Neben- und Wechselwirkungen von Arzneimitteln stellen eine große Gesundheitsgefahr dar und belasten das Gesundheitssystem auch finanziell. In welcher Größenordnung bewegt sich Deutschland da?

Dr. Friedrich von Bohlen: In Deutschland sterben jedes Jahr ca. 30.000 – 55.000 Menschen an Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Medikamenten, und ca. 300.000 Menschen werden deswegen jedes Jahr hospitalisiert. Damit gehören Medikamentennebenwirkungen nach Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs zur Gruppe der dritt-häufigsten Todesursache.

Die jährlichen Aufwendungen des deutschen Gesundheitssystems für Medikamentennebenwirkungen werden auf etwa € 1,5 - 2,5 Mrd. geschätzt. Diese Kosten umfassen Krankenhausaufenthalte sowie zusätzliche Behandlungen und Pflege, die durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen verursacht werden. 

mhz: Und was sind die Gründe für solche Nebenwirkungen und unerwünschten Wirkungen?

von Bohlen:  Es gibt verschiedene Gründe wie Überdosierungen, falsche Einnahme und Polypharmazie (gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente). Der Hauptgrund sind polypharmazeutische Drug-Drug-Interaktionen (DDI) und Drug-Patient-Interaktionen (DPI). Während DDIs zum Teil verstanden und auch zum Teil in Beipackzetteln ausgewiesen sind ist die Gefährlichkeit individueller Kombinationen vieler Medikamente bei einem bestimmten Patienten (DPI) oft nicht bekannt. DPIs sind generell verstanden, werden aber nicht gemessen. Die Gefährlichkeit von DPIs beruht darauf, dass jedes Medikament von unserem Organismus verstoffwechselt wird, um eliminiert werden zu können. Dazu gibt es enzymatische Systeme, die bei jedem von uns etwas unterschiedlich sind. Wenn zum Beispiel ein Patient fünf Medikamente verschrieben bekommt, die alle über denselben enzymatischen Mechanismus eliminiert werden müssen, und dieser Mechanismus bei dieser Person ein sogenannter ‚slow metabolizer‘ ist, kann das dazu führen, dass die tatsächliche Wirkstoffkonzentration oder die Konzentration von Metaboliten = Abbauprodukten der Arzneimittel im Organismus viel höher ist als sie es wäre, wenn nur ein einziges dieser fünf Medikamente eingenommen werden würde. Die MTD (maximal tolerierbare Dosis) jedes einzelnen Medikaments ist zwar bekannt, aber man kennt die tatsächlichen Konzentrationen im Organismus nicht, wenn jemand viele Medikamente auf einmal einnehmen muss und dadurch die tatsächliche Dosis eines oder mehrerer Präparate zum Teil deutliche überschritten werden kann. Das kann dann schnell tödlich werden oder zu schweren Nebenwirkungen führen, die zu Krankenhausaufenthalten und Pflegebedarf führen können. 

mhz: Wäre denn ein Teil dieser Fälle vermeidbar – und wenn ja, wie?

von Bohlen: Ja, viele und vielleicht sogar die meisten Fälle könnten vermieden werden. Der erste Schritt müsste ein umfassender Überblick des Patienten, Arztes und/oder Apothekers über die tatsächlich eingenommenen Medikamente sein. Denn die meisten wirklich gefährlichen Fälle beruhen auf Polymedikation, die der Arzt oft nicht sieht, weil er die anderen Medikamente und Wirkstoffe, dazu gehören auch Supplemente und Nahrungsergänzungsmittel, nicht kennt. Hier hilft als erstes eine performante Patientenakte, die dem Arzt und Apotheker einen ganzheitlichen Überblick verschafft. Da sieht man neben den komplexeren Fällen auch schon ganz einfache Dinge: wer zig Supplemente nimmt, erreicht schnell einzelne Überdosierungen, wenn Substanzen in vielen dieser Supplemente vorkommen.

Komplizierter sind DPIs. Die kann man nur erkennen und verstehen, wenn man die Performance des enzymatischen Abbausystems eines Patienten kennt. Die kann man mithilfe eines SNP-Tests (SNP: single nucleotide polymorphism) messen. Ein solcher Test benötigt Körperzellen, am einfachsten aus Blut oder Spucke – die könnten daher einfach in einer Apotheke, beim Arzt, bei einer Blutspende oder beim Zahnarzt gewonnen werden. Ein solcher Test dauert ca. eine Woche und kostet summa summarum heute vermutlich 200 Euro, Tendenz sinkend. Ergebnis ist ein individuelles enzymatisches Patientenprofil, das lebenslang gilt und gut in der Patientenakte abgelegt werden könnte. Dann sähe jeder Arzt oder Apotheker, und auch der Patient selbst, bei welchen Kombinationen individuelle Risiken entstehen können. Oft gibt es dann andere Präparate mit derselben Wirkung, die anders abgebaut werden und stattdessen verschrieben oder genommen werden könnten. Geht das nicht, müsste ärztlich priorisiert oder die Dosis angepasst werden.

mhz: Was müsste denn von Seiten des Gesetzgebers geschehen, um diese Tests flächendeckend zu ermöglichen und so die Patientensicherheit zu verbessern?

von Bohlen: Zuerst muss die Kommunikation der Vorteile in den Vordergrund gestellt werden: Wie und wieso kann mit einem einfachen SNP-Test eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland signifikant reduziert werden? Was ist ein SNP-Test, und welche persönlichen Vorteile habe ich und hat mein Arzt dadurch? Wenn das mal verstanden und gesellschaftlich akzeptiert ist, ist der Rest recht einfach. SNP-Tests sollten in meinen Augen bei erforderlicher Polymedikation fest vorgeschrieben werden. Bei einfacher Medikation könnten sie empfohlen werden. Vorgeschriebene Tests müssen von den Kassen getragen werden, empfohlene Teste können zum Beispiel in Verbindung mit klugen Präventionsmaßnahmen von den Kassen ebenfalls erstattet werden. Darüber hinaus kann jeder einen solchen Test selbst durchführen lassen, zumal es letztlich auch eine Form von Gesundheitsprävention ist. Diese Tests können in Apotheken, Praxen und bei Blutspenden angeboten werden und könnten zudem online bestellt werden. Wichtig ist, dass ein Mindest-Enzym-Profil gemessen wird und dieses für Ärzte und Apotheker zugänglich ist, am besten über die Patientenakte.

mhz: Mit der elektronischen Patientenakte ist ja auch der bereits im Oktober 2016 eingeführte bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP) digitalisiert und als elektronischer Medikationsplan (eMP) Teil der ePA. Wie hilfreich ist dieser zur Vermeidung solcher Probleme mit der Medikation?

von Bohlen: Deutschland hat kein Problem mit Szenarien. Deutschland hat ein Umsetzungsproblem. Wenn diese Informationen flächendeckend verfügbar sind und die Information des individuellen SNP-Tests dazu kommt, kann die Algorithmik heute schon erkennen und signalisieren, welche Medikamente bzw. Kombination von Medikamenten per se (DDI) bzw. für den individuellen Patienten (DPI) gefährlich sein können.

Unter der Annahme, dass ein SNP-Test in Summe heute diese 200 Euro,kostet würde sich das in Anbetracht der oben genannten Aufwendungen bereits rechnen, wenn jährlich zehn Millionen Tests erstattet würden. Da ein solcher Test nur einmal im Leben durchgeführt werden müsste, würde sich ein solcher Test für die gesamte Bevölkerung im Laufe von zehn Jahren rechnen. Ganz abgesehen von den vielen vermiedenen Todesfällen, von denen jeder einzelne ‚priceless‘ wäre.

mhz: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 7/2025. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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