Viele würden freie Arztwahl gegen schnellere Termine tauschen

28.05.2025, Sven C. Preusker
Politik & Wirtschaft, Versorgung


Eine aktuelle, repräsentative Umfrage im Auftrag des AOK-Bundesverbandes zeigt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung auf die freie Arztwahl verzichten würde – im Tausch für schnellere Termine. 68 Prozent der Deutschen würden hier gerne tauschen, wenn sie nach einem Besuch des Hausarztes einen Facharzttermin vermittelt bekämen. Nur 29 Prozent der Befragten sprechen sich für die weiterhin freie Facharztwahl aus, auch dann, wenn diese mit längeren Wartezeiten verbunden wäre.

Die forsa-Umfrage unter 8.583 Befragten ziele auf die Erhebung eines Stimmungsbildes in der Bevölkerung zum Primärversorgungssystem, das von der AOK-Gemeinschaft befürwortet wird und als Ziel im Koalitionsvertrag der neuen Regierung formuliert wurde, hieß es von der Krankenkasse. In diesem System würden in den meisten Fällen Hausarztpraxen als erste Anlaufstelle für Patienten fungieren, um sie durch das System zu leiten.

Ein weiterer Bestandteil des Primärversorgungsansatzes, welcher der Umfrage zufolge auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt, ist das Vorhaben, anderen Gesundheitsberufen mehr Aufgaben in der Gesundheitsversorgung zu übertragen. Laut der Ergebnisse finden das ebenfalls 68 Prozent der Befragten sehr gut oder eher gut. „Diese Ergebnisse sollten der neuen Regierung Mut machen, das Primärversorgungssystem durch echte Strukturreformen konsequent umzusetzen. Damit könnten einige der drängendsten Probleme in der ambulanten Versorgung gelöst werden“, so die AOK-Vorstandsvorsitzende Dr. Carola Reimann.

Im Ergebnis würde ein Primärversorgungssystem Reimann zufolge für mehr Patientenorientierung und einen besseren Zugang sorgen. „Außerdem würde es dabei helfen, die zahlreichen doppelten oder überflüssigen Untersuchungen zu stoppen, die angespannte Situation bei der Terminvergabe an GKV-Versicherte in den Griff zu bekommen, und es würde insgesamt zu einem effizienteren Einsatz von Beitragsmitteln führen, zu dem die Politik dringend wieder zurückfinden muss.“

Bis zu 2.000 zusätzliche Kontakte pro Jahr?

Mit Blick auf die Pläne zur Einführung eines Primärarztsystems hat das Zentralinstitut kassenärztliche Versorgung (Zi) berechnet, wie stark die Inanspruchnahme hausärztlicher Praxen dadurch steigen könnte. Wie das Primärarztsystem konkret ausgestaltet werden solle, sei noch offen, hieß es. Bekannt sei, dass die primärärztliche Versorgung durch Haus- und Kinderarztpraxen erfolgen soll. Ein direkter Zugang solle nur bei Augen- und Frauenärzten bestehen. Für alle anderen Facharztkontakte solle ein Überweisungsvorbehalt gelten. 

Von der heutigen Inanspruchnahme der vertragsärztlichen Versorgung durch die gesetzlich Versicherten ausgehend unterscheidet das Institut drei Gruppen von Patienten:

Erstens, diejenigen, die ausschließlich Haus- bzw. Kinderärzte sowie Augen- oder Frauenärzte in Anspruch genommen haben (Gruppe 1).

Zweitens, diejenigen, die zusätzlich Ärzte anderer Fachrichtungen in Anspruch genommen haben (Gruppe 2). 

Drittens, diejenigen, die ausschließlich Ärzte anderer Fachrichtungen in Anspruch genommen haben (Gruppe 3). Die mögliche Zusatzbelastung der Primärärzte resultiert folglich aus Behandlungswünschen der Gruppen 2 und 3.

In den vertragsärztlichen Abrechnungsdaten des Jahres 2023 für erwachsene Patienten umfasst Gruppe 3 rund 7,9 Millionen Patienten mit 12,1 Millionen Behandlungsfällen ohne Überweisung (ohne Berücksichtigung von augenärztlichen oder gynäkologischen Fällen). Geht man davon aus, dass diese Inanspruchnahmen künftig mindestens einen Hausarztkontakt auslösen, entstehen etwa 230 Behandlungsfälle pro hausärztliche Praxis. Geht man zudem davon aus, dass Früherkennungsuntersuchungen und der Zugang zu psychotherapeutischer Untersuchung keine Überweisung erfordert, reduziert sich die Anzahl an Behandlungsfällen ohne Überweisung auf 11,2 Millionen Behandlungsfälle. Dies sind umgerechnet auf die rund 52.000 Hausärzte ca. 214 zusätzliche Behandlungsfälle pro Jahr. 

Gruppe 2 umfasst 42,7 Millionen Patienten mit rund 99,7 Millionen Behandlungsfällen ohne Überweisung (ohne Augen- bzw. Frauenärzte). Rechnet man Früherkennungsuntersuchungen und die Psychotherapie heraus, resultieren 91,3 Millionen Behandlungsfälle ohne Überweisung. Würde jede dieser Inanspruchnahmen vorab einen Hausarztkontakt auslösen, wären dies 1.757 zusätzliche Kontakte pro Hausarzt und Jahr. Insgesamt müssten Hausärzte bei einer strengen Ausgestaltung des Primärarztsystems, bei dem vor jedem neuen Facharztkontakt im Quartal eine hausärztliche Überweisung stehen muss, demnach aus Gruppe 2 und Gruppe 3 mit rund 2.000 zusätzlichen Kontakten pro Jahr rechnen. 

Allerdings sagt der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried, dass die Zahl von rund 2.000 potenziell zusätzlichen Hausarztkontakten als Folge der Einführung eines Primärarztsystems durchaus kritisch hinterfragt werden könne. Das Fehlen von Überweisungen als Grundlage für einen Facharztkontakt sei nicht gleichbedeutend mit einer fehlenden Inanspruchnahme der hausärztlichen Versorgung; nicht immer würden auch vorliegende Überweisungen in der Abrechnung erscheinen. Rund 25,8 Millionen Patienten in Gruppe 2 (90 Prozent) hatten im gleichen Quartal mindestens einen Haus- und einen oder mehrere Facharztfälle. Veröffentlichte Auswertungen der Inanspruchnahme nach Behandlungsdatum würden nahelegen, dass Facharztfällen dieser Patienten zu einem hohen Anteil (etwa 75 Prozent) ein Hausarztkontakt der fachärztlichen Inanspruchnahme zeitlich vorgelagert sei. „Somit wäre in diesen Fällen rechnerisch für eine Überweisung kein zusätzlicher Hausarztkontakt notwendig“, so von Stillfried.

Auf dieser Grundlage blieben aus Gruppe 2 jährlich nur 34,2 Millionen Behandlungsfälle bzw. rund 600 zusätzliche Kontakte pro Hausarzt im Jahr. Die Zahl werde noch geringer, wenn bei diesen Patienten zusätzlich mindestens ein Hausarztfall im Vorquartal berücksichtigt wird, bei dem die Überweisung hätte veranlasst werden können (8,8 Millionen Behandlungsfälle insgesamt bzw. rund 169 zusätzliche Kontakte pro Hausarzt), machte von Stillfried deutlich. Bezieht man auch die 214 Kontakte mit ein, die aus Behandlungsfällen der Gruppe 3 resultieren, ergibt sich für die Hausärzte ein rechnerisches Minimum von insgesamt rund 380 zusätzlichen Kontakten pro Hausarzt infolge eines Überweisungsvorbehalts. Das wären etwa zwei zusätzliche Kontakte pro Tag und Hausarztpraxis. Der zusätzliche Zeitaufwand je Patient dürfte dabei auch davon abhängen, ob diese der Praxis bereits über einen längeren Zeitpunkt bekannt sind. 

„Entscheidend für die Zusatzbelastung der Hausarztpraxen durch ein Primärarztsystem wird daher dessen gesetzgeberische Ausgestaltung im Detail sein. Solange der Quartalsbezug gilt und vor jeder fachärztlichen Inanspruchnahme eine Überweisung irgendeiner Primärarztpraxis vorliegen muss, dürfte die Zusatzbelastung am höchsten ausfallen. Sie kann bereits dadurch reduziert werden, dass Patientinnen und Patienten sich längerfristig an eine bestimmte Primärarztpraxis binden. Sofern dann auch die Fachärztin bzw. der Facharzt auf Basis einer initialen Überweisung aus der hausärztlichen Praxis im Rahmen seines Behandlungsauftrags selbständig weitere Fachärztinnen und Fachärzte hinzuziehen kann und der Quartalsbezug sowohl für die Behandlung der Hausärztin/des Hausarztes als auch für die Geltung von Überweisungen gelockert wird, dürfte die Zusatzbelastung minimal gehalten werden können. Bemerkenswert ist, dass sich bereits heute rund 21 Millionen gesetzlich Versicherte so verhalten, als gebe es ein Primärarztsystem. Da diese Patientinnen und Patienten von den an sich vorgesehenen Versorgungspfaden nicht abweichen, dürfte sich für sie wenig ändern“, so der Zi-Vorstandsvorsitzende abschließend.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 9/2025. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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