Wir brauchen Strukturen-, Prozess- UND Finanzierungsreformen
Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz ist auf dem Weg. Reform wie gehabt nach dem „Sarotti-Prinzip“: Hier ein Stückchen, da ein Stückchen. So will Gesundheitsminister Lauterbach die Krankenkassen „kurzfristig konsolidieren“, in dem u. a. die spärlicher gewordenen Rücklagen abgebaut und Zusatzbeiträge erhöht werden. Andreas Storm nennt es ein Destabilisierungsgesetz. Vor dem Hintergrund dessen, was möglich und notwendig ist, geht das so nicht mehr. Ich lege mich da mal fest. Es gibt genügend Vorschläge, wie Strukturen und Prozesse im Gesundheitswesen patientenorientiert mit den Möglichkeiten von Digitalisierung bedarfsgerecht, effektiv und effizient weiterentwickelt werden können.
Eine ganze Reihe von Modellen, Selektivverträgen, integrierten Verträgen und Innovationsinitiativen machen es vor, wie es gehen kann. Das muss nun einschließlich der zahlreichen Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft des Gesundheitswesens in sozialrechtlich wirksame Rahmengesetzgebung übersetzt werden. Nur kurzfristig an den Mechanismen der Finanzierungslogik rumzubasteln und die Beitragszahler, die auch in anderen Daseinsfunktionen bereits überlastet sind (Energie- und Mietkosten, Inflation …), zur Kasse zu bitten, hilft nicht wirklich – nein, macht es noch schlimmer.
In ihrem Beitrag für die jetzt erscheinende September-Ausgabe von WELT DER KRANKENVERSICHERUNG erläutern Andreas Storm, Chef der DAK, Prof. Dr. Dr. Alexander Ehlers und Dr. Christian Rybak unter Einbeziehung Ihrer Expertinnen und Experten sehr anschaulich und materialreich, wohin die Reise gehen würde: Es drohe ein „Beitragssatz-Tsunami“ und eine Insolvenzwelle. Der Staat müsse endlich für kassenfremde Aufgaben und Leistungen, die den Krankenkassen auferlegt worden sind, zuverlässiger aufkommen. So solle er die Kosten von Hartz-IV-Empfängern auch voll übernehmen, zudem müsste die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel von 19 auf 7 Prozent gesenkt werden. Es kann nicht sein, dass der Staat Futter für Hunde besser fördere als notwendige gesundheitliche Versorgung der Menschen.
Aber auch das wird nicht reichen. Wir dürfen nicht mehr an der Fortschreibung der inneren Logik des sozialrechtlich verankerten Status Quo regelmäßig scheitern. Im Grunde liegt das Potential für eine Veränderung des strukturellen und prozessualen Status Quo auf der „Straße“. Es sind zahlreiche gute Ansätze vorhanden, „Spielwiesen“ aufgemacht, Digitalisierungspotentiale liegen brach. Hier liegen die Fortschrittspotentiale: vernetzte Strukturen, patientenorientierte, regionale und auch ergebnisorientierte Versorgungsmodelle usw. Mit der Digitalisierung sind Voraussetzungen geschaffen, die Prozesse um das Leistungsgeschehen selbst nicht nur transparenter zu machen, sondern auch Vernetzung, Kooperation und Integration zu gestalten und auszubauen. Dennoch verlaufen die Regelprozesse immer noch zu schleppend und zu langsam. Daher brauchen wir nicht nur eine wirkliche Finanzierungsreform, die auch ihre eigene Logik und Interdependenzen überwindet, sondern zugleich Struktur- und Prozessreformen. Vorschläge und durchdachte Konzepte gibt es zuhauf. Oder ist auf Mut und Entscheidungskraft politischer Gestaltung kein Verlass mehr? Dann müssten durch mehr Leistungs- und Kostenverantwortliche mehr Fakten geschaffen werden, an denen die Politik nicht mehr vorbeigehen kann. Zumal ich inzwischen auch den Eindruck gewonnen habe, dass es mehr auf die Gestaltungskraft der praktisch Verantwortlichen ankommt als auf die Politik. Aber hier sind natürlich Grenzen gesetzt. Und die liegen letztlich auch im Finanzierungssystem.
Herzliche Grüße
Ihr Rolf Stuppardt
Strukturen verändern, Versorgung sichern und Finanzierungsfragen lösen
In der Entwicklung des Gesundheitswesens stehen wir an einer Wegemarke. Wieder einmal soll ein kurzfristig angelegtes Kostendämpfungsgesetz die defizitäre Entwicklung in den Griff bekommen. Das wird nicht gelingen. Vielmehr müssen endlich Strukturen und Prozesse im Sinne einer effektiven wie effizienten regionalen gesundheitlichen Versorgung nachhaltig reformiert und langfristig sicher finanziert werden, meint Herausgeber Rolf Stuppardt.
Radikaler Rücklagenabbau in der gesetzlichen Krankenversicherung – Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz und seine Folgen
Im wettbewerblich aufgestellten System der sozialen Krankenversicherung geht es im Kern darum, die gesundheitlichen Leistungsansprüche, die gesundheitliche Versorgung der Versicherten in qualitativ vertretbarer und wirtschaftlicher Weise sicherzustellen. Soll das auch in Zukunft störungsfrei gewährleistet sein, müssen die Finanzierungsfragen des Systems nachhaltig gelöst sein. Vor dem Hintergrund des GKV-Finanzstabilisierungsgesetz diskutieren Andreas Storm, Prof. Dr. Alexander P.F. Ehlers und Dr. Christian Rybak die Folgen und Perspektiven. Aus ihrer Sicht stellt der Entwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes einen Eingriff in die finanzielle Selbständigkeit der Krankenkassen dar.
Patientenbriefe im Entlassmanagement: Ein Gewinn für Patient:innen und Kliniken
Um die Entlassung aus dem Krankenhaus für Patient:innen zu optimieren, braucht es Lösungen, die keinen zusätzlichen Aufwand für Klinik-Ärzt:innen bedeuten. Mit der Patientenbrief-Software hat das Sozialunternehmen „Was hab‘ ich?“ eine Möglichkeit zur einfachen Integration von Patientenbriefen in das Entlassmanagement geschaffen. Die Evaluation der Software-erstellten Patientenbriefe zeigt: Sie verbessern nachweislich die Gesundheitskompetenz. Der G-BA hat das Innovationsfonds-Projekt daher für die Überführung in die Regelversorgung empfohlen. Jetzt wurden die Patientenbriefe mit dem Lohfert-Preis ausgezeichnet. Beatrice Brülke und Ansgar Jonietz berichten.
Wissenschaftsleugnung – ein Kommentar aus Sicht der Evidenzbasierten Medizin
Sind Karl Lauterbach, Wolfgang Schäuble und andere Politiker*innen Wissenschaftsleugner*innen? Anfang Juli 2021 fordern sie eine COVID-19-Impfung aller Kinder (Schmidt/Tomik 2021; BR24 Nachrichten 2021), obwohl die wissenschaftlichen Fachexpert*innen der Ständigen Impfkommission (STIKO) nach dem Stand der Wissenschaft eine solche Indikation nur in Ausnahmefällen sehen (Robert Koch-Institut 2021). Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser kommentiert das Thema Wissenschaftsleugnung aus Sicht der Evidenzbasierten Medizin.
Hybrides telemedizinisches Versorgungsprogramm Kaitan® Coaching für Patient*innen mit nicht-alkoholischer Fettleber
Die Anzahl der Menschen, die unter einer nicht-alkoholischen Fettleber (NAFL) leiden, steigt seit Jahren stetig an. Expertinnen und Experten sprechen bereits von der neuen Volkskrankheit, die durch das sogenannte metabolische Syndrom begünstigt wird. Unter anderem schaden Übergewicht und ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel infolge falscher Ernährung der Leber, ohne dass die Betroffenen es merken. Das ist gefährlich, denn eine fortschreitende Leberverfettung führt zu irreversiblen Organschäden, Folgeerkrankungen und damit zu hohen Behandlungskosten. Wolfgang Weber und Dr. Gabriele Schiebel-Schlosser stellen ein erfolgreiches Coaching-Programm vor.
Am 13.9. findet nun zum 10. Mal der WELTSEPSISTAG statt. 1 von 5 Todesfällen weltweit wird mit Sepsis (Blutvergiftung) in Verbindung gebracht. Aber: Wussten Sie, dass Sepsis auch als die weltweit am meisten vermeidbare Todesursache gilt? 47 bis 50 Millionen Fälle mit mindestens 11 Millionen Todesfällen wurden zuletzt pro Jahr gezählt. Und immerhin entfallen 40 % der Fälle auf Kinder unter 5 Jahren. Sepsis ist eine der häufigsten Formen von Infektionen, die im zeitlichen Zusammenhang mit medizinischen Maßnahmen in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder ambulanten Praxen stehen. Sie ist die Nr. 1 der Todesursachen in Krankenhäusern. Daher läuft in Deutschland seit 2021 die Aufklärungskampagne #DEUTSCHLANDERKENNTSEPSIS – initiiert durch das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. (APS). In einer gemeinsamen PRESSEMELDUNG sprechen sich #DeutschlandErkenntSepsis und die Sepsis Stiftung zum Weltsepsistag für eine „dringliche Priorisierung von Sepsis im Rahmen von nationalen und internationalen Gesundheitsstrategien“ aus.
BRENNPUNKT AMBULANTER SEKTOR – WOHIN ENTWICKELT SICH DIE VERTRAGSÄRZTLICHE UND SEKTORENÜBERGREIFENDE VERSORGUNG?
Nachhaltige Schritte für eine sektorenübergreifende Versorgung einzuleiten, ist im Koalitionsvertrag angekündigt. Es bestehen einzelne Ansätze wie die sektorenübergreifende Nutzenbewertung des GBA und die ASV, aber kein grundlegender Ansatz. Eine Reform zur Weiterentwicklung des stationären und ambulanten Systems muss Veränderungen in der Bedarfsplanung, Zulassung, Vergütung, Kodierung, Dokumentation, Kooperation der Gesundheitsberufe und Qualitätssicherung beinhalten.
Ein weiteres bedeutendes gesundheitspolitisches Thema ist die Zunahme von MVZ mit angestellten Ärzten bei gleichzeitigem Rückgang der niedergelassenen Ärzte in Einzel- und Gemeinschaftspraxen. Seit mehreren Jahren erwerben zudem vermehrt Finanzinvestoren Arztpraxen bestimmter Fachrichtungen und integrieren die Vertragsarztsitze über Krankenhäuser in MVZ. Insbesondere die Bundesländer und die Kassenärztlichen Vereinigungen fordern gesetzliche Regelungen zur Begrenzung investorengeführter MVZ.
Mit den diesjährigen 21. Berliner Gesprächen zum Gesundheitswesen werden wir über folgende Themen informieren und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen:
Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen sektorenübergreifender Versorgung
Gemeinsame Bedarfs- und Krankenhausplanung
Aufbau, Umsetzung und Finanzierung regionaler integrierter Gesundheitsnetzwerke
Mehr Chancen oder mehr Risiken für die vertragsärztliche Versorgung durch MVZ?
Antworten des ärztlichen Berufsrechts auf investorenbetriebene MVZ
Ökonomisierung der GKV durch investorenbetriebene MVZ?
Folgende Referenten und Diskutanten stehen dafür zur Verfügung:
Tom Ackermann, Vorstandsvorsitzender AOK NordWest, Dortmund
Prof. Dr. Andreas Beivers, Studiendekan der Hochschule Fresenius, München
Anne-Kathrin Klemm, Vorständin BKK Dachverband e.V., Berlin
Hans-Dieter Nolting, Geschäftsführer IGES Institut GmbH, Berlin