Prof. Dr. Thomas Klie: Wir müssen mit negativen Narrativen über die Pflege aufhören

25.04.2024, medhochzwei

medhochzwei: Prof. Dr. Klie, Sie haben sich gemeinsam mit anderen Expertinnen und Experten das Thema Vorbehaltsaufgaben in der Pflege angeschaut, die mit dem Pflegeberufegesetz 2020 eingeführt wurden. Was sind denn die Vorbehaltsaufgaben und wie ist der Stand der Dinge bei der Umsetzung?

Prof. Dr. Thomas Klie: Seit drei Jahren arbeitet der Think Tank Vorbehaltsaufgaben, den ich seinerzeit als Justiziar der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB) ins Leben gerufen habe, an der Konkretisierung des Themas Vorbehaltsaufgaben. Der Think Tank unterstützte die Arbeitsgruppe Vorbehaltsaufgaben der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) und hat auch auf diese Weise einen Beitrag dazu geleistet, sowohl pflegewissenschaftlich als auch pflegerechtlich zu einem gemeinsamen Verständnis von dem zu gelangen, was  unter Vorbehaltsaufgaben zu verstehen ist. Das Konzept ist alt: Es sollte bereits 1994 ins Gesundheits- und Krankenpflegegesetz Eingang finden – es scheiterte damals am Bundesgesundheitsminister Seehofer und dem Freistaat Bayern. Das Konzept der Vorbehaltsaufgaben konzentriert sich auf die Verantwortung der Pflegefachkräfte für den Pflegeprozess. Sie liegt „exklusiv“ bei den Pflegefachpersonen. Das entspricht dem internationalen Verständnis von Pflege nach den WHO-Übereinkünften zum zyklisch angelegten Pflegeprozess. Das Konzept der Vorbehaltsaufgaben ist nicht tätigkeits- und verrichtungsbezogen. Nicht etwa die Behandlungspflege gehört zu den Vorbehaltsaufgaben – ein immer noch kursierendes Bild, nicht die Durchführung. Nein: Nicht Tätigkeiten, nicht Verrichtungen, sondern die Verantwortung für die Gestaltung des Pflegeprozesses – sie gehört zu den Vorbehaltsaufgaben. Anamnese/ Assessment, Aushandlung mit dem auf Pflege angewiesenen Menschen, Planung, Anleitung und Delegation von pflegerischen Tätigkeiten und Evaluation des Pflegeprozesses – das sind die Bestandteile des Pflegeprozesses, die wir in Deutschland in § 4 Pflegeberufegesetz (PflBG) als Vorbehaltsaufgaben normiert haben. 

medhochzwei: Vier Jahre nach Inkrafttreten hält sich kaum jemand an die Regelungen eines Gesetzes – wie ist das zu erklären?

Klie: Auch wenn das Konzept der Vorbehaltsaufgaben in der Pflegeversicherung schon durch die Maßstäbe und Grundsätze (MUGs) in den 1990er Jahren verbindlich gemacht wurde, das Konzept der verantwortlichen Pflegefachkraft in § 71 SGB XI nicht das der Pflegedienstleitung, sondern eben der prozessverantwortlichen Pflegefachkraft ist:  die verrichtungsbezogene Finanzierung der Pflegeleistungen und die hierarchische Einordnung der Pflegekräfte in die klinischen Strukturen steht der Umsetzung  des Konzeptes der Vorbehaltsaufgaben im Wege. Auf diese Weise wurde auch der Prozess der Professionalisierung der Pflege behindert. Maßgeblichen Anteil hat  das Leistungserbringungsrecht, für das die Leistungsträger- und Leistungserbringerverbände Verantwortung tragen: Es ist bis heute, trotz neuem Pflegebedürftigkeitsbegriff, immer noch verrichtungsbezogen. Da in dem Markt der Pflege die ökonomischen Anreize dominant sind – Verrichtunen werden refinanziert – hat das professionelle Selbstverständnis der Pflege das Nachsehen. 

medhochzwei: An welchen Stellen muss ein Umdenken stattfinden, damit die vorbehaltenen Rechte der Pflegefachpersonen respektiert werden und Gesundheitseinrichtungen gesetzeskonform agieren?

Klie: Wir haben gerade im Rahmen des DAK-Pflegereports 2024 die Kipppunkte für die einzelnen Bundesländer errechnet, zu denen die Zahl der altersbedingt aus dem Beruf Ausscheidenden die Zahl der Absolventinnen und Absolventen von Pflegeschulen übersteigt. Schon heute verfügen wir über keine Arbeitsmarktreserve an Pflegefachkräften. Insofern werden wir alles daransetzen müssen, Pflegefachkräfte kompetenzorientiert einzusetzen. In der Zukunft gilt es mehr auf Pflege angewiesene Menschen mit weniger Fachpflegepersonen zu begleiten und zu versorgen. Insofern geht es nicht so sehr um eine „Gesetzeskonformität“, sondern vielmehr darum, die gesundheitliche Versorgung mithilfe der Professionellen der Pflege sicherzustellen. Die Vorbehaltsaufgaben stellen sich als Grundrechtseingriff für in der Pflege Tätige dar. Sie sind nur gerechtfertigt, wenn die eigenständige und eigenverantwortliche Fachpflege einen unverzichtbaren Beitrag zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung leistet. Davon ging der Gesetzgeber aus. Diese Einsicht gilt es nun entsprechend im Gesundheitswesen umzusetzen. Das fordert von allen viel: Es müssen in den Organisationen, aber auch in der Personalentwicklung die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Pflegefachkräfte Aufgaben, die ihren Kompetenzen entsprechen, zugeordnet werden. Schluss etwa mit der Fachkraftquote. Das fordert auch von den Pflegefachpersonen viel. Viele von ihnen agieren nicht unbedingt verantwortungsaffin, zumindest nicht in komplexen Stuationen. Viele Pflegefachkräfte, insbesondere in der Langzeitpflege, haben eine Vorstellung von einer ganzheitlichen Pflege, die sie selbst erbringen: Das hat nicht viel mit einem professionellen Selbstverständnis der Pflege zu tun. Pflegefachpersonen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen, beklagen, dass sie nicht im Sinne ihrer Kompetenzen eingesetzt werden. Im WHO-Vergleich liegt Deutschland, was einen kompetenzorientierten Einsatz von Pflegefachpersonen anbelangt, auf dem Niveau von Usbekistan. Insofern sind vielfältige Professionalisierungsbemühungen sowohl in der Ausbildung, in der Personalentwicklung, in der Pflegeselbstverwaltung, aber auch in den rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen die Pflege ihre eigenverantwortliche Tätigkeit entfalten kann, vonnöten. 

medhochzwei: Nun ist ja auch ein Pflegekompetenzgesetz geplant, mit welchem den Pflegenden – wie der Name schon suggeriert – mehr Kompetenzen zugestanden werden sollen. Wie schätzen Sie die neuen Pläne ein, gerade mit Blick auf die schleppende Umsetzung der Vorbehaltsaufgaben?

Klie: Das Pflegekompetenzgesetz könnte ein Meilenstein sein auf dem Weg der Professionalisierung der Pflege. Karl Lauterbach hat mit den 17 Eckpunkten eine sehr positive Resonanz, insbesondere aus der Pflege, erhalten. Ärztinnen und Ärzte mit Pflegefachpersonen auf Augenhöhe, kooperative Formen der Leistungserbringung und Verantwortung für die gesundheitliche Versorgung: darum geht es. Man wird das Pflegekompetenzgesetz daran messen müssen, ob es gelingt, die Vorbehaltsaufgaben im Leistungsrecht zu verankern – vor allem im SGB V. Das Berufsrecht geht dem Sozialrecht vor. Insofern sind im Sozialrecht sowohl gesetzlich als auch untergesetzlich die Vorbehaltsaufgaben aufzunehmen und zu reflektieren. Hier gibt es zum Teil noch Widerstände, die es im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu überwinden gilt. Erst wenn die Vorbehaltsaufgaben im Leistungsrecht verankert sind und auch in Fragen der Finanzierung berücksichtigt werden, werden sie eine Chance auf Umsetzung in der Fläche haben. 

medhochzwei: Pflege ist ja vielerorten ein ‚Mangelberuf‘ – denken Sie, dass das Pflegeberufegesetz und das geplante Kompetenzgesetz daran etwas ändern können – oder was wäre da nötig?

Klie: Pflege wird ein Mangelberuf bleiben, darum kommt es darauf an, Pflegefachpersonen kompetenzorientiert einzusetzen. Das tun wir heute nicht. Deutschland steht im internationalen Vergleich nicht schlecht da, wenn es um das Verhältnis von Pflegefachkräften zur Gesamtbevölkerung geht. Pflegefachkräfte in die Heilkundeausübung einzubeziehen und ihnen die Vorbehaltsaufgaben konsequent zu übertragen und sie entsprechend zu finanzieren: darum wird es gehen. Nochmals: wir werden mehr auf Pflege angewiesene Menschen mit weniger Fachpflegepersonen zu versorgen haben. Wir brauchen auch zusätzliche Rollen von Pflegefachpersonen, die sie für besonders komplexe und anspruchsvolle Aufgaben qualifizieren. Hier spielt auch die Akademisierung der Pflege, die in Deutschland noch kaum entfaltet ist, eine maßgebliche Rolle. Es wird auch darum gehen, Abiturientinnen und Abiturienten für den Pflegeberuf zu gewinnen. 

medhochzwei: „Vorbehaltsaufgaben der Pflege – Pflegewissenschaftliche und pflegerechtliche Grundlegung und Einordnung“ ist der Titel der kürzlich erschienen Publikation der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) und des Think Tanks Vorbehaltsaufgaben (TT VA). Was sind die Kernfragen, mit denen sich die Publikation beschäftigt und zu welchen Schlüssen kommt sie?

Klie: In der Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft und des schon erwähnten Think Tanks Vorbehaltsaufgaben haben wir die pflegewissenschaftlichen Grundlagen der Vorbehaltsaufgaben ebenso entfaltet wie wichtige Aspekte pflegerechtlicher Art. Darüber hinaus wurde das Konzept der Vorbehaltsaufgaben für unterschiedliche Arbeits- und Handlungsfelder der Pflege konkretisiert: für den klinischen Sektor, für die Langzeitpflege, für die psychiatrische Versorgung, für die Pflegepädagogik. Vorbehaltsaufgaben bezeichnen keine Domäne der Pflege. Vorbehaltsaufgaben heißt: Die Fachpflegepersonen haben sich mit ihrer Kompetenz einzubringen in die Versorgungswirklichkeit und in das jeweilige Aushandlungsgeschehen mit anderen Professionen. Das wird in der Veröffentlichung als Kernverständnis mit all seinen Implikationen dargelegt. Die Resonanz ist erstaunlich: Es gibt, das zeigt sie, einen ausgesprochen großen Orientierungs- und Informationsbedarf. Wir sind froh, ihn mit dieser Veröffentlichung beantworten zu können. 

medhochzwei: Zum Abschluss: Welche Maßnahmen fehlen (noch), um einen Beruf in der Pflege wieder für mehr Menschen attraktiv zu machen?

Klie: Wir müssen mit einigen negativen Narrativen über die Pflege aufhören und mit ihnen aufräumen. Pflege ist ein attraktiver Beruf. Noch nie haben so viele junge Menschen den Pflegeberuf ergriffen wie 2021. Der Pflegeberuf ist nicht schlecht bezahlt. Er gehört zu den bestbezahlten nichtakademischen Ausbildungsberufen. Die Ausbildungsvergütung ist einmalig. Pflegefachpersonen sind auch berufstreu und haben auch nach Corona den Pflegeberuf nicht verlassen. Wir müssen, das wird ein wesentlicher Beitrag zur Erhaltung der Attraktivität des Pflegeberufes sein, anders über Pflege reden und die negativen Narrative aufgeben. Sicher ist auch: Wir müssen in die Arbeitsbedingungen von Pflegefachpersonen investieren. Sie werden immer ungünstiger. Sie gefährden auch die Attraktivität des Berufsfeldes.

medhochzwei: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 07-2024. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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