WIR HABEN NUR IN DER HAND WIE WIR LEBEN
Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung, sagt Heraklit von Ephesus. Für mich bescherte diese Konstante ein trauriges Wochenende und eigentlich hatte ich mir für den Prolog dieses Newsletter ein anderes Thema gedanklich zurecht gelegt. Aber der viel zu frühe Tod meines Freundes Herbert Rebscher aus heiterem Himmel wirkte irgendwie lähmend und niederschmetternd, trotz der in all den Jahren internalisierten und schließlich durchweg gelebten Erfahrungsruhe, dass alles ist, was es ist und wir es keinesfalls in der Hand haben, zu welchem Zeitpunkt wir diese Erde verlassen, so wie unser Kommen ja auch nicht. Zumindest nach diesseitigem Verständnis. Wir haben nur in der Hand wie wir leben.
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Und so ein Ereignis ändert dann die Fühl- und Denkrichtung. Mit Herbert Rebscher verbindet mich seit Anbeginn unserer jeweiligen Führungsfunktionen Anfang der 90er Jahre – im Grunde schon etwas vorher – ein intensiver, anregender kollegialer fachlicher und gesundheitspolitischer Austausch. Trotz zum Teil unterschiedlicher Interessens- und Meinungsstandpunkte (er vertrat ein großes Ersatzkassensystem und später mit der DAK eine große Ersatzkasse, ich ein eher mittelständisch geprägtes, aus dem Handwerk gewachsenes, heterogenes Innungskrankenkassensystem) entstand daraus eine freundschaftliche, persönliche Beziehung auch unter Einbezug unserer Familien.
Herbert konnte in der Sache hart und engagiert argumentieren, ließ sich aber auch von Argumenten überzeugen und wurde nie persönlich-verletzend. Sein zentrales Anliegen war ein solidarischer Wettbewerb für eine bessere Gesundheitsversorgung.
Als Ökonomen unterschiedlicher Denkschulen (er bei dem Gesundheitsökonomen Günter Neubauer, ich bei dem Sozialökonomen Theo Thiemeyer) war uns gemein, dass uns der Neoliberalismus mit der Verabsolutierung eines ökonomischen Rationalitätsverständnisses suspekt und weltfremd erschien.
Uns war klar, Ökonomie trifft immer auf soziale Realität und schafft auch immer wieder soziale Realität. In einer demokratischen, menschenwürdigen Gesellschaft kann angewandte Ökonomie nicht für sich stehen. Sie braucht einen Gegenstand. Zum Beispiel Gesundheit. Das hat uns gereizt, weil Gesundheit ein völlig atypischer Markt ist. Rebscher schrieb 2019 für meine Zeitschrift: „Auf der einen Seite besteht der sozial- und verfassungsrechtlich in vielen Varianten formulierte Anspruch der populationsorientierten gleichen Versorgungsansprüche für Patienten und ein auf Solidarität gegründetes Finanzierungssystem in einem körperschaftlich verfassten Versicherungsumfeld. Auf der anderen Seite ist insbesondere die Angebotsstruktur industriell wettbewerblich (Arzneimittel, Medizinprodukte), freiberuflich korporatistisch (niedergelassene Ärzte, Apotheker) oder von einem Mix von öffentlichen, frei-gemeinnützigen und privaten Trägern (Krankenhäuser) geprägt. Schließlich gilt auf Seiten der Versicherungen, jedenfalls für die rund 90 % der Bevölkerung umfassende gesetzliche Krankenversicherung (GKV) mit ihren etwa 100 unterschiedlichen Kassen, ein Wettbewerb um Mitglieder, der über unterschiedliche Beitragssätze (Preissignal) als wesentliches Wettbewerbskriterium ausgetragen wird und mit – für Versicherungen – extrem kurzen Kündigungsfristen für die Versicherten, bei Kontrahierungszwang für die Versicherungen, ausgestaltet ist.“
Vor diesem Hintergrund bilden sich Märkte heraus, die zwischen strenger öffentlicher Regulierung, korporatistisch verfassten Strukturen bis hin zu rein preisgetriebenen Wettbewerbsmärkten reichen. Das macht stringentes und konsistentes Analysieren und Steuern schwierig, zumal auch mehr oder weniger Intransparenz herrschte und noch herrscht. Eine solidarische Wettbewerbsordnung sollte es eigentlich richten.
Ich war anfangs nicht überzeugt davon, denn Solidarität und Wettbewerb schließen sich im Grunde aus. Die Absicht fand ich aber durchaus unterstützenswert: Es sollten faire Bedingungen geschaffen werden, die es den Krankenkassen als Treuhänder der Gelder ihrer Versicherten ermöglichen sollte, (Wettbewerbs-) Spielräume für mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit, also für mehr Effektivität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung, zu eröffnen. Das ist ein löbliches Ziel, denn schließlich geht’s um Versorgung und Gesundheitserhalt der Menschen, nicht um Krankenkassen, Krankenhäuser und Ärzte an sich.
Was aber wirklich geschah, konnte diese Zielstellung faktisch nicht hinreichend bedienen. Spätestens mit den eher aus gesamtwirtschaftlichen Politikerwägungen (Stichwort Lohnzusatzkosten) eingeführten und als Versorgungsqualitätsförderug propagierten, nur von den Versicherten aufzubringenden Zusatzbeiträgen, orientierte sich praktisches Handeln im Grunde auf Preise und Kosteneffizienz. Und die damit verbundene Finanzierung über einen Risikostrukturausgleich orientierte auf Morbidität, nicht aber zugleich auf Investition und Innovation im Sinne eines besseren Gesundheitsoutcomes. Und als die Förderung der Integrierten Versorgung wegfiel bestand wenig Anreiz, versorgungsorientiert im Sinne der Menschen zu investieren und zu agieren. Es bestand auch wenig Grund, die überhaupt nicht patientengerechten segmentierten Strukturen und Prozesse zu verändern. Von zielbezogener Prävention als ökonomisch sinnvolles Basiselement erst gar nicht zu reden.
Seit einiger Zeit ist uns klar, dass Bedarfsveränderungen in einer Gesellschaft längeren Lebens (das ausgerechnet Herbert nun nicht vergönnt war) Strukturanpassungen mit sich bringen müssen, dass Digitalisierung und KI bei allen inhärenten Problemen letztlich Versorgungsprozesse und schließlich Plattformen und Netzwerke Macht und Märkte verändern werden.
In letzter Zeit machte uns Sorge, dass durch weltweites nationalistisches und partikulares Denken, durch die zunehmende Unfähigkeit zu argumentativem Diskurs, durch das Schüren von Angst, durch das Spalten und Herrschen, durch Verletzungen von Menschen- und Völkerrechten große Schritte zurück gemacht werden könnten, die mit Sicherheit diejenigen empfindlich – auch ökonomisch gesehen – treffen werden, die glauben, dass diese Schritte zurück eine Alternative sind. Sie werden es nicht sein.
Diese Diskussionen mit Herbert werde ich vermissen. Ich werde aber auch seine herzliche und entspannte Art vermissen, über viele andere Themen in der Welt zu sprechen. Oder mit den Lieben entspannt und fröhlich über das Meer zu schippern.
In Erinnerung an eine gradlinige, aber durchaus nicht dogmatische, herzlich aufgeräumte Persönlichkeit grüße ich Sie sowohl traurig als aber auch herzlich
Ihr Rolf Stuppardt