PraxisBarometer Digitalisierung: Klarer Nutzen Voraussetzung für Akzeptanz digitaler Anwendungen

15.02.2022, Sven C. Preusker
Politik & Wirtschaft, Psychotherapie, Digital Health

Zunehmende Enttäuschung angesichts unreifer und wenig praxistauglicher Anwendungen verspüren die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten beim Thema Digitalisierung – der sie trotz allem weiterhin offen gegenüberstehen. Das geht aus dem PraxisBarometer Digitalisierung 2021 hervor, das das IGES Institut zum vierten Mal im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) durchgeführt hat. 2.836 Ärzte und Psychotherapeuten nahmen an der Online-Befragung teil.

Insbesondere junge Ärztinnen und Ärzte sind dem PraxisBarometer zufolge offen gegenüber digitalen Anwendungen: 94 Prozent der Unter-50-Jährigen sind an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen. Im Vergleich zum Vorjahr berichten aber immer mehr Niedergelassene von der Fehleranfälligkeit der TI. 50 Prozent der befragten Praxen haben mindestens wöchentlich mit Fehlern bei der TI-Nutzung zu kämpfen; der Anteil derer mit täglichen Störungen hat sich mit 18 Prozent sogar verdoppelt.

Ganz aktuell kam es Anfang des Jahres zu vermehrten Störungen, die durch elektronische Gesundheitskarten der neuesten Generation verursacht wurden. Praxen erkennen die betroffenen Karten an einem kleinen WLAN-ähnlichen Symbol oder der Generationenkennung G 2.1 auf der Karte. Versicherte benötigen diese NFC-fähigen Karten unter anderem, um das eRezept mit der entsprechenden App nutzen zu können. Die Krankenkassen statten deshalb nach und nach alle Versicherten mit diesen neuen eGK aus. Beim Einlesen der Karten kam es zuletzt vermehrt zu Ausfällen der Kartenterminals eines Herstellers. Als Grund für die Störung hatte die gematik elektrostatische Entladungen angegeben. Die Störung führe zu verschiedenen Fehlermeldungen – in allen Fällen müssten Praxen dann das Kartenterminal oder sogar das Praxisverwaltungssystem neu starten, hieß es.

Fast zwei Drittel der Befragten schätzen die Fehleranfälligkeit als starkes Hemmnis für die Digitalisierung im Gesundheitswesen ein. Auch ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis digitaler Anwendungen hat für 65 Prozent der Befragten starke negative Auswirkungen. Etwas mehr als die Hälfte der Praxen bemängelt zudem die fehlende Nutzerfreundlichkeit – im Vergleich zur Befragung 2020 sind das 14 Prozent mehr. „Ausfälle und technische Mängel sorgen nicht nur für Frust und Mehraufwand, sie setzen auch die generelle Akzeptanz der Digitalisierung aufs Spiel“, führte Dr. Thomas Kriedel, Mitglied des Vorstands der KBV aus, und ergänzte, es werde jetzt deutlich mühevoller, die Überzeugungsarbeit zu leisten: „Ich hoffe, dass sich Politik, gematik und Industrie darüber im Klaren sind."

Der Einfluss des Digitalisierungsfortschritts auf ihre Tätigkeit schätzen die Praxen laut der Ergebnisse seltener positiv ein als in den Vorjahren. Erwarteten im Jahr 2019 noch jeweils mehr als die Hälfte der Praxen Verbesserungen für das Praxismanagement sowie die Kommunikation mit anderen Praxen/ambulanten Einrichtungen und Krankenhäusern, waren es im Jahr 2021 nur noch etwas über 40 Prozent, mit Blick auf das Praxismanagement sogar nur noch rund ein Viertel. Hierin würden sich eine große Ernüchterung und unerfüllte Erwartungen spiegeln, so die IGESS-Forscher. Dies betreffe auch medizinische Aspekte wie z. B. Verbesserungen bei der Diagnosequalität, die nur noch dreizehn Prozent der Praxen erwarten (2019: 28 Prozent), da es hier bislang an der Anwendungsbreite fehle.

Erfolgsmodell Videosprechstunde

Das Beispiel der Videosprechstunde zeige dagegen, dass Digitalisierung mit klarem Nutzen auch schnell Anwendung im Versorgungsalltag finden könne, so der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KBV, Dr. Stephan Hofmeister. „Die Videosprechstunde hat während der Pandemie geholfen, Kontakte zu reduzieren und trotzdem die Versorgung aufrechtzuerhalten. Entsprechend stark wurde sie auch angeboten und nachgefragt. Sie ist aber nicht der berühmte Gamechanger, der alles ändert. Dazu ist ihr Einsatzgebiet zu begrenzt. Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt ist und bleibt der Goldstandard.“ Ganz vorne liegen bei den Videosprechstunden die Praxen der psychotherapeutischen Versorgung ¬ 74 Prozent dieser Praxen boten ab März 2020 und 2021 Videosprechstunden an. Insgesamt waren es 39 Prozent (ab März 2020) bzw. 37 Prozent (2021) der Praxen, Bei den Fach- (18 Prozent) und Hausärzten (19 Prozent) lag der Anteil 2021 am niedrigsten. Dabei bewerten die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten ihre Erfahrungen auf technischer Seite überwiegend als positiv, halten die therapeutische Eignung aber für begrenzt. Der Aussage „Die Video-Sprechstunde eignet sich für Neu-Patientinnen und -Patienten“ stimmten nur vier Prozent der Befragten voll und ganz zu, elf Prozent stimmten der Aussage „eher zu“. Ca. 70 Prozent (bzw. 83 Prozent der spezialisierten Facharztpraxen) halten die Videosprechstunde für langfristig betreute chronisch kranke Patienten geeignet. Auch sehen zwei Drittel der Praxen Vorteile einer Videosprechstunde gegenüber einem Telefonat. Rund ein Viertel der Praxen hat ihr Angebot an Videosprechstunden im Jahr 2021 ganz eingestellt. Gründe hierfür waren laut der Befragungsergebnisse ein Rückgang der Patientennachfrage, aber auch geringere pandemiebedingte Einschränkungen. Etwa die Hälfte der Praxen hat bislang überhaupt noch keine Videosprechstunde angeboten, darunter allerdings nur 16 Prozent der psychotherapeutischen, aber zwei Drittel der hausärztlichen Praxen. Als Hauptgrund für diesen Angebotsverzicht wurden eingeschränkte Diagnosemöglichkeiten genannt.

Die Eignung von Videosprechstunden bewerten die Praxen je nach Anlass sehr unterschiedlich. Insgesamt halten die Praxen Videosprechstunden am meisten geeignet für die Besprechung von Untersuchungsergebnissen sowie für die Anamnese (fast 60 Prozent bzw. 53 Prozent der ärztlichen Praxen). Dagegen sehen mehr als drei Viertel der Praxen Videosprechstunden als eher oder sehr schlecht geeignet für die Diagnose- und Indikationsstellung. Skeptischer als im Vorjahr wurde die Nutzung von Videosprechstunden für Arzt-Patienten-Gespräche ohne Untersuchung bewertet, aber hierbei traten teilweise deutliche Unterschiede zum Vorschein: Mehrheitlich positiv werteten Videosprechstunden in diesem Zusammenhang spezialisierte und interdisziplinäre Arztpraxen, psychotherapeutische Praxen, große Praxen und jüngere Praxisbetreiber (unter 50 Jahren).

Fazit: Ernüchterung

Hofmeister sagte zu den Ergebnissen des PraxisBarometers, die Ergebnisse des ließen sich mit einem Wort zusammenfassen: „Ernüchterung. Das ist besonders deshalb tragisch, weil der Großteil der Ärzteschaft der Digitalisierung gegenüber eigentlich positiv eingestellt ist und sich durch sie Vorteile für die Versorgung erhofft.“ „Voraussetzung für die Akzeptanz ist aber, dass neue Anwendungen den Praxisalltag erleichtern und die Patientenversorgung verbessern. Der Nutzen ist entscheidend“, ergänzte Kriedel. Dieser Nutzen sei im letzten Jahr immer seltener erkennbar gewesen. Die Folge: zunehmender Frust in den Praxen.

Angesichts der im PraxisBarometer deutlich werdenden Stimmungslage in den Praxen forderte Kriedel: „Die Befragung macht einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, dass die versprochenen Vorteile der Digitalisierung auch endlich in den Praxen ankommen. Grundlage dafür wird sein, die neuen Anwendungen ausgiebig und mit genügend Vorlauf zu testen.“ Hierbei solle der Gesetzgeber die Empfehlungen des eigenen Nationalen Normenkontrollrats beherzigen. Hofmeister ergänzte: „Wenn die dafür vorgesehenen Fristen nicht das Ergebnis bringen, das wir in der Versorgung brauchen, dann bringt es auch nichts, wenn Politik sagt‚ wir machen es trotzdem‘. Hier erwarten wir auch von der neuen Bundesregierung einen Kurswechsel – dass also der im Koalitionsvertrag versprochene, versorgungsrelevante Ausbau‘ der Digitalisierung nun auch umgesetzt wird.“
Die Digitalisierung dürfe in den Praxen nicht länger als notwendiges Übel wahrgenommen werden, das bestenfalls zwar gut gemeint, aber schlecht gemacht sei. Mit Nutzen überzeugen, statt mit der Brechstange – das wäre ein politischer Paradigmenwechsel, den die KBV gerne unterstützen würde.

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