Digitalisierung und Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur: Patientenorientierung oberstes Gebot

06.04.2022, Sven C. Preusker
Digital Health, Politik & Wirtschaft

Das „Fachforum Telematik“ der ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH, ein 1999 auf Initiative des Gesundheitsministeriums Nordrhein-Westfalen gegründetes, herstellerunabhängiges Kompetenzzentrum für Telemedizin und Digitalisierung im Gesundheitswesen, hat jetzt ein Positionspapier zur „Telematikinfrastruktur 2.0“ (TI 2.0) vorgelegt. Diese Weiterentwicklung der TI hat die gematik als „Arena für digitale Medizin“ in einem Whitepaper Anfang 2021 skizziert. 

Damit Digitalisierung zukünftig einen nachhaltigen Nutzen für das deutsche Gesundheitswesen generieren könne, gelte es in der TI, digitale Dienste möglichst nutzergerecht und patientenorientiert zu gestalten, fordern die Mitglieder des Fachforums Telematik. Das Fachforum ist ein beratendes Gremium des Aufsichtsrates der ZTG GmbH. Die TI 2.0 könne nur gelingen, wenn adäquate Schritte zur Implementierung eingeleitet würden, heißt es in dem Positionspapier. Die Autoren empfehlen daher ein klares Migrationskonzept mit sukzessiver, planbarer Umstellung und Erweiterung, ein intelligentes Testverfahren mit Testumgebung und regionalen Feldtests, eine vollwertige Referenzumgebung für Schulungs- und Übungszwecke sowie eine klare nutzerbezogene Kommunikationsstrategie.

Aus technologischer Perspektive verspreche die Umstellung aktueller Strukturen auf die TI 2.0 eine bessere Handhabbarkeit und eine erhöhte Nutzerorientierung. Jakob Scholz, Vorsitzender des Fachforums und Abteilungsleiter eHealth der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe: „Ein möglichst hoher versorgungsrelevanter Nutzen für Patientinnen und Patienten, Praxen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sollte bei der Integration ganz klar im Vordergrund stehen. Primäres Ziel der Weiterentwicklung muss eine bestmögliche Gesundheitsversorgung sein, weniger die Umsetzung von Verwaltungsaufgaben.“ 

Auch auf Patientenseite gelte es, den Zugang zu TI-Anwendungen zu vereinfachen, heißt es in dem Papier. Da die Nutzung der elektronischen Patientenakte (ePA) gerade für alle alters-, geistig- oder körperlich bedingt eingeschränkten Patientinnen und Patienten besonders sinnvoll sei, sollte für sie der Zugang unbedingt sichergestellt sein. Niederschwellige Angebote würden aber bislang fehlen.

Keine realitätsnahe Testung möglich

Als problematisch erachtet das Fachforum auch, dass es der Industrie aktuell nicht möglich sei, Produkte in einer Testumgebung unter realitätsnahen Bedingungen zu testen. Regional umgrenzte Feldtests sowie eine praxisorientierte und adäquat konzipierte Testumgebung für Hersteller seien allerdings absolut notwendig. Nur ein gut vorbereiteter Testbetrieb könne letztendlich zu realen Erkenntnissen, zu besseren Lösungen und zu deutlicher Beschleunigung in der Umsetzung führen. Auch hinsichtlich der Migration auf Strukturen der geplanten TI 2.0 fehle ein klares Konzept – gerade für den zeitweisen Parallelbetrieb von TI 1.0 und TI 2.0. Das Fachforum fordert daher ein klares Migrationskonzept mit sukzessiver, planbarer Umstellung und Erweiterung.

Wichtig für eine erfolgreiche Ausgestaltung der IT-Vernetzung sei zudem die Akzeptanz und Bereitschaft aller beteiligten Akteurinnen und Akteure. Dafür brauche es die partizipative und aktive Einbindung aller Beteiligten in die Ausgestaltung der TI 2.0. Nach Meinung des Fachforums kann dies vor allem dadurch gelingen, dass bereits erfolgreich getestete oder im Einsatz erprobte Verfahren ausgerollt statt an anderer Stelle neu entwickelt werden.

Mehr Datenverarbeitung erfordert mehr Datenschutz und Datensicherheit

Zeitgleich ist auch eine Untersuchung des Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) im Auftrag der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) zum Voranschreiten der Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem erschienen. Im Fokus standen dabei der Umsetzungsstand von Gesetzesinitiativen, Datenschutz- und Cybersicherheitsaspekte sowie die Identifizierung von Innovationspotenzialen – unter anderem durch Vergleiche mit Dänemark, Estland, Spanien und Österreich, die bei der Digitalisierung ihrer Gesundheitssysteme allesamt besser abschneiden würden als Deutschland, wie es von den Forschern hieß.

Als Ursachen für die verzögerte Digitalisierung sehen die Forscher neben Interessenskonflikten der vielen beteiligten Akteursgruppen insbesondere Bürokratie, hohe Technologiekosten, Sicherheitsbedenken und regulatorische Unsicherheiten sowie die fehlende Zuverlässigkeit der technischen Lösungen. Auf die nur mäßig fortschrittlichen Strukturen sei im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie getroffen, die eklatante Schwachstellen der digitalen Kommunikation zwischen den Akteursgruppen des Gesundheitswesens offengelegt und besondere finanzielle, zeitliche und personelle Ressourcen abverlangt, andererseits aber auch einen gewissen Handlungsdruck ausgelöst habe, um bei der Digitalisierung schneller als bisher voranzukommen.

Die Studie mit dem Titel „E-Health in Deutschland – Entwicklungsperspektiven und internationaler Vergleich“ setzt sich vor diesem Hintergrund mit den Ursachen der verzögerten Digitalisierung auseinander und erarbeitet Handlungsempfehlungen für die weitere Gestaltung. Um den Untersuchungsgegenstand besser zu erfassen, werden in der Studie fünf zentrale digitale Anwendungen betrachtet: die Telematikinfrastruktur und Telemedizin, die elektronische Patientenakte, digitale Gesundheitsanwendungen sowie das elektronische Rezept.

Eine Untersuchung der Positionen zentraler Akteursgruppen des deutschen Gesundheitswesens zeige, dass diese die Digitalisierung begrüßen würden, wenn dadurch nicht eigene Interessen gefährdet würden, so die Autoren. In den Vergleichsländern Estland, Dänemark, Spanien und Österreich würden relevante Stakeholder von Beginn an stärker bei der Implementierung von E-Health-Prozessen eingebunden, wodurch ihre Ansichten frühzeitig besser verstanden und ihre Mitarbeit, Unterstützung und Zustimmung zu den Ergebnissen des E-Health-Planungsprozesses besser gewährleistet werde.

Die Studienautorinnen und -autoren weisen daraufhin, dass mit dem Ausbau der Telematikinfrastruktur und weiteren Anwendungen – etwa Videosprechstunden, digitalen zahnärztlichen Bonusheften oder digitalen Impfpässen – auch die Datenverarbeitung und damit der Datenschutz und die Datensicherheit an Bedeutung gewinnen würden. Allerdings seien bisher kaum Möglichkeiten zur Vereinheitlichung und Konkretisierungen des Datenschutzes wahrgenommen worden. Zudem seien bei IT-Sicherheits- und Datenschutzfragen Verantwortlichkeiten teilweise unklar und wenig nachvollziehbar geregelt – etwa definiere die gematik als zentrale Instanz die Anforderungen an die Telematikinfrastruktur und kontrolliere auch deren Einhaltung, sie sei aber nicht für den Datenschutz verantwortlich. Umgekehrt seien die Rahmenbedingungen für Apps tendenziell zu ambitioniert geregelt, denn diese müssten anhand eines umfangreichen Kriterienkatalogs auf Datenschutz und Sicherheit überprüft werden, was dazu führen könne, dass viele Apps die Anforderungen nicht erfüllen oder die Entwicklerinnen und Entwickler den entsprechenden Aufwand scheuen würden.

Dr. Tanja Bratan, Koordinatorin der Forschung am Fraunhofer ISI zum EFI-Bericht: „Auf Basis unserer Studienergebnisse sehen wir unter anderem besonderen Handlungsbedarf beim Ausbau einer leistungsfähigen Breitbandinfrastruktur als Grundlage für die Digitalisierung, der Entwicklung einer E-Health-Strategie für Deutschland, einer besseren Vernetzung im gesamten Gesundheitssystem sowie einer deutlichen Verbesserung der IT-Sicherheit in Gesundheitseinrichtungen. Darüber hinaus sollte ein stetiges Monitoring die Umsetzung der Digitalisierung begleiten und in Reallaboren E-Health-Anwendungen erprobt werden. Aber auch die Aufklärung der Bevölkerung und die Verbesserung der digitalen Kompetenzen der Gesundheitsberufe sollte eine absolute Priorität zukommen.“

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