Ethikrat legt Empfehlungen für zukünftige Pandemien vor

06.04.2022, medhochzwei
Politik & Wirtschaft, Coronavirus

Der Deutsche Ethikrat hat eine Stellungnahme vorgelegt, in der er die Erfahrungen im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie reflektiert und daraus Lehren für den zukünftigen Umgang mit Pandemien zieht. 

Seit Anfang 2020 nötige die COVID-19-Pandemie weltweit Gesellschaften zu teils tief einschneidenden Abwägungen und Priorisierungen, die nicht nur politisch verantwortet, sondern auch ethisch gerechtfertigt werden müssten, so der Rat. In den auftretenden Entscheidungskonflikten könnten unterschiedliche moralische Güter nicht immer gleichzeitig oder im gleichen Maße gewahrt beziehungsweise umgesetzt werden. Diese Güterabwägungen erforderten normative Kriterien, mit deren Hilfe sich beispielsweise entscheiden lasse, wann bei der Eindämmung von Pandemien individuelle Freiheit zugunsten des Gesundheitsschutzes aller zurücktreten sollte – oder umgekehrt.

Der Rat untersucht in dem Papier den Verlauf der COVID-19-Pandemie sowie die Strategien und Maßnahmen, die in Deutschland zu ihrer Bewältigung ergriffen wurden. Auf dieser Grundlage zieht er seine normativen Schlussfolgerungen. In einer Krise von weltgeschichtlichem Ausmaß seien Fehler und Fehlentscheidungen unvermeidlich. „Die Entwicklung einer nachhaltigen Strategie zur Bewältigung zukünftiger Pandemien muss daher auch auf einer kritischen Analyse systemischer Mängel, dysfunktionaler Organisationsformen und ungeeigneter Verfahren aufbauen“, so die Sprecherin der zuständigen Arbeitsgruppe des Ethikrates, Sigrid Graumann.

Dabei hat für den Rat das Begriffspaar Vulnerabilität und Resilienz besondere Bedeutung. Im Verständnis des Ethikrats würden Verwundbarkeit und Verletzlichkeit zur Grundverfassung der menschlichen Existenz schlechthin gehören, heißt es zum Begriff der Vulnerabilität. Es gebe demzufolge zwar gute Gründe, in der Krise einer Pandemie einzelne Menschen oder bestimmte Personengruppen als besonders vulnerabel einzustufen ¬– daraus könne dann etwa ein Anspruch auf spezielle Solidarität abgeleitet werden. Allerdings würden auch alle anderen Menschen verletzlich bleiben. Wenn sie nicht besonders verletzbar durch die Krankheit selbst seien, träfen und verletzten sie möglicherweise die negativen Folgen der zur Eindämmung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen. Dies betreffe beispielweise Kinder, Jugendliche, Auszubildende und Studierende. Sie hätten ein viel geringeres Risiko als ältere und vorerkrankte Menschen, schwer an COVID-19 zu erkranken – junge Menschen würden aber besonders unter Einschränkungen ihrer Ausbildungswege und ihres Soziallebens leiden. Dennoch seien ihnen erhebliche Einschränkungen dieser Art während der Corona-Krise auferlegt und unter anderem mit der Rücksichtnahme auf Ältere gerechtfertigt worden. Die Beachtung der ganz unterschiedlichen Formen von Vulnerabilität könnte hier zukünftig auch eine gezieltere Förderung von Resilienz ermöglichen, so der Ethikrat.

„Die Folgen der Pandemie und ihrer Bewältigung betreffen zwar alle, aber eben nicht alle in gleicher Weise“, betonte die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx. Deshalb kämen auch Aspekte der Gerechtigkeit ins Spiel. Kriterien für die gerechte Verteilung von knappen Impfstoffen oder intensivmedizinischen Ressourcen seien ebenso wichtig wie Maßnahmen der Kompensation für besondere pandemiebedingte Belastungen. Aber auch Fragen der internationalen Gerechtigkeit sollten einbezogen werden, wenn es etwa darum gehe, welche Solidarität wohlhabendere Länder weniger wohlhabenden bei der Bewältigung der Pandemie schulden würden. Zudem sei es eine Frage der intergenerationellen Gerechtigkeit, welche Lasten die gegenwärtig lebenden Menschen zukünftigen Generationen aufbürden dürften.

Aus seinen Überlegungen leitet der Deutsche Ethikrat am Ende seiner Stellungnahme eine Reihe konkreter Empfehlungen für Güterabwägungen im Kontext von Pandemien ab (siehe u.a. S. 30-35 im unten verlinkten Dokument). Sie betreffen beispielsweise den Umgang mit Unwissen und Ungewissheit, die insbesondere zu Beginn der Pandemie politische Entscheidungen erschwert hätten. Gefordert werden weiterhin verbesserte Kommunikations- und Informationsstrategien sowie die Einbeziehung von Menschen mit eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten in die sie betreffenden Entscheidungen. Aus demokratietheoretischer Perspektive spricht sich der Ethikrat für die Förderung von Eigenverantwortung, Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt aus. Das Potenzial von Maßnahmen, gesellschaftliche Spaltungen zu befördern, solle zukünftig systematisch in Entscheidungen berücksichtigt werden. Der vollständige Wortlaut der Stellungnahme „Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie“ ist abrufbar unter: www.ethikrat.org

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