Notfallversorgung: Reformentwurf vorgelegt – DGINA sieht überholtes Bild der Notfallmedizin

19.04.2022, Sven C. Preusker
Politik & Wirtschaft

Notfallversorgung: Reformentwurf vorgelegt – DGINA sieht überholtes Bild der Notfallmedizin
Auf Initiative der Bertelsmann-Stiftung hat ein Experten-Panel jetzt eine nach eigenen Worten „politikrelevante und tragfähige Handreichung zur Neuordnung der Notfallversorgung“ entwickelt. Die präsentierte Lösung könne als Kompromiss für eine abgestimmte und intersektorale Lösung der Notfallversorgung dienen, die die verschiedenen Perspektiven berücksichtige, heißt es in dem Papier. Das Ziel des Experten-Panels sei es gewesen, nach zwei gescheiterten Gesetzesentwürfen in der letzten Legislaturperiode (Diskussionsentwurf und Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums 2019/2020) eine umsetzbare Reformoption für die Notfallversorgung zu entwickeln. Denn trotz zum Teil anderslautender Ankündigungen habe das BMG in der letzten Legislaturperiode keinen weiteren Entwurf vorgelegt. Das Papier verweist auch auf den Koalitionsvertrag der amtierenden Regierungskoalition, in dem die Reform der Notfallversorgung wieder thematisiert wurde (siehe auch medhochzwei Newsletter 12/2021). Allerdings seien mit der dortigen Formulierung einzelne Positionen wieder aufgegriffen worden, die sich bisher nicht als förderlich für eine Notfallversorgungsreform erwiesen hätten, so das Panel. Konzeptionelle Vorstellungen, mit denen die bestehenden Konfliktlagen, die letztendlich zum Scheitern der zwei vom BMG vorgelegten Entwürfe geführt hätten, überwunden werden können, seien bisher nicht entwickelt worden.

In sechs Unterpunkte gegliedert bietet das Experten-Panel einen Lösungsvorschlag für eine Reform der Notfallversorgung. Erster Punkt ist der Veränderungsbedarf bei den rechtlichen Grundlagen des Rettungsdienstes – hier schlagen die Expertinnen und Experten des Panels vor, eine grundsätzliche rechtliche Neuausrichtung für die Rettungsdienste zunächst zurückzustellen, da die Voraussetzung für eine veränderte rechtliche Anbindung der Rettungsdienste eine Klärung grundlegender kompetenzrechtlicher und finanzieller Fragen sei, die dafür notwendigen Abstimmungen eine Reform der gesamten Notfallversorgung, aber zeitlich verzögern oder gar verhindern würden. Stattdessen solle über einen Prozess der Annäherung und Abstimmung im Schnittstellenmanagement ein neues gemeinsames Grundverständnis in der Notfallversorgung entwickelt werden. Eine rechtliche Bereinigung der unbefriedigenden Situation bleibe jedoch Ziel des Prozesses.

DGINA: Diskussion an Bedürfnissen einer Reform der Notfallversorgung vorbei

Mit Blick auf das Gutachten bedauerte die Deutsche Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), dass darin die Bedürfnisse der Akut- und Notfallpatienten erneut weiter an den Rand gedrängt würden. Die Vorstellung, dass so gut wie alle fußläufigen Patienten in den Notaufnahmen keine schweren Erkrankungen hätten und von KV-Ärzten direkt vor den Notaufnahmen ohne größeren Aufwand wieder in den niedergelassenen Sektor zurückgeschickt werden könnten, zeichne „ein überholtes Bild der Notfallmedizin aus dem letzten Jahrhundert,“ so der DGINA-Vorstand in einer Stellungnahme. Die KVen würden mit diesem Vorgehen organisatorisch, personell und fachlich heillos überfordert sein.

Die Krankenkassen würden einen „Gatekeeper“ der KV vor der Notaufnahme des Krankenhauses fordern – unter der Vorstellung, dass Krankenhäuser aus rein wirtschaftlichen Gründen Notallpatientinnen und Notfallpatienten stationär aufnehmen würden. Auch dieser Lösungsansatz sei nicht neu und bereits mehrfach gescheitert. Nur weil die Sektorentrennung des deutschen Gesundheitssystems dies so vorsehe, lasse sich die Notfallversorgung nicht in fußläufige und klar ambulante Patienten einerseits und vom Notarzt gebrachte stationäre Patienten für die Schockraumversorgung andererseits trennen. Das Spektrum einer modernen Notfallmedizin sei viel breiter.

„Zu innovativen Ansätzen wie den einer sektorenunabhängigen Notfallversorgung mit Reduzierung von finanziellen Fehlanreizen scheint auch dieser „Expertenbeirat“ leider nicht in der Lage zu sein. Zum wiederholten Mal wird die Expertise aus der professionellen Notfallmedizin nicht gehört, was zu einer höchst selektiven Wahrnehmung des eigentlichen Reformbedarfs der Akut- und Notfallversorgung beiträgt. Es ist nur zu hoffen, dass das Bundesministerium für Gesundheit innovativere Wege einschlagen wird, die den Bedürfnissen der Akut- und Notfallpatienten gerecht werden und die Patientensicherheit in den Fokus stellen.,“ hieß es abschließend von der DGINA.

Sechs Punkte

Zurück zum Bertelsmann-Gutachten: zur Entwicklung eines gemeinsamen Grundverständnisses schlagen die Expertinnen und Experten vor, zur abgestimmten Entwicklung von Standards, Prozessen und Qualitätsmonitoring ein „Fachkundiges Gremium“ (FG) zu bilden. Dieses solle durch Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) in Abstimmung mit dem Bundesinnenministerium (BMI) initiiert werden. Rechtliche Grundnorm für die Rechtsverordnung sei das SGB V (aufgrund des Bezuges zu Rechten und Pflichten der Krankenkassen). Die Vorschlagsrechte für die Besetzung des FG lägen bei den Krankenkassen, den KVen, den Krankenhausgesellschaften, der Gesundheitsministerkonferenz (GMK), der Innenministerkonferenz (IMK) und den kommunalen Spitzenverbänden. Aufgabe des FG soll laut des Panels die Herstellung von fachlichem Einvernehmen sein. In Abstimmung mit dem BMI übertrage ihm das BMG Aufträge zur Entwicklung untergesetzlicher Regelungen. Das BMG könne Ergebnisse nach Konsultation mit den Ländern in die Kassenfinanzierung übernehmen. Die Vergütung dieser Normen und Standards werde kostendeckend zugesagt. Nach einer Übergangszeit würden ausschließlich so definierte Prozesse finanziert. So könne eine Konvergenz über ein gemeinsames Grundverständnis und dem operativen Handeln hergestellt werden. Zusätzlich sollen auf Länderebene entsprechende Fachgremien gebildet werden, die unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten die Umsetzung der untergesetzlichen Normen fördern und bewerten. Mit den fachlichen Ländergremien solle ein entsprechender strukturierter Dialog zwischen Rettungsdiensten, KVen und Krankenhäusern gefördert werden, mit dem Ziel, vor Ort unnötige Schnittstellen abzubauen bzw. diese optimal zu gestalten.

Vorerst Verzicht auf Ein-Raum-Lösung

Zur Optimierung der vorstationären Notfallbehandlung heißt es, auf eine verpflichtende Ein-Raum-Lösung der vorhandenen Leitstellen solle vorerst verzichtet werden. Stattdessen solle das FG mit einer Prozessoptimierung für die Übergabe von fehlgeleiteten Anrufen beauftragt werden, sodass diese bruchlos unter Wahrung eines abgestimmten fachlichen Konzeptes nach einheitlichen digitalen Standards unter Nutzung der gegenseitigen Kompetenzen mit telemedizinischer Unterstützung, ohne Zeitverzug für die Patientinnen und Patienten, über bundeseinheitliche Prozesse und auch über Zuständigkeitsgrenzen hinweg möglich würde. Außerdem müssten die Dispatcher der Leitstellen und das Rettungsfachpersonal vor Ort so auf- und auszurüsten, dass sie jederzeit z.B. für Rückfragen und für ausführlichere Patientenberatung auf ärztliche Unterstützung aus der Vertragsärzteschaft telefonisch/videotelefonisch zugreifen könnten.

Direkte Zugriffsmöglichkeit auf Pflege und Palliativversorgung

Weiterhin schreiben die Expertinnen und Experten, dass aus der Praxis berichtet werde, dass Krankenhauseinweisungen oft medizinisch nicht zwingend seien, aber aufgrund fehlender pflegerischer häuslicher Unterstützung in der akuten Situation vom Rettungsdienst oder den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten veranlasst würden. Wenn jedoch zeitnah eine ambulante Pflege herangezogen werden könnte, bis eine pflegerische Regelversorgung organisiert sei, könnte sowohl eine Einweisung unterbleiben als auch oftmals dem Patientenwunsch zur häuslichen Behandlung entsprochen werden. Hierzu bedürfe es eines schnellen und unkomplizierten Verfahrens der Bereitstellung von akut-pflegerischen Ressourcen, der Abstimmung (auch der Finanzierung) und der Vorhalteorganisation. Auch einen unmittelbaren Zugriff der vertragsärztlichen bzw. rettungsdienstlichen Strukturen auf eine akute palliative Versorgungsmöglichkeit halten die Expertinnen und Experten für notwendig, um unnötige Einweisungen von Menschen in ihrer finalen Lebensphase zu vermeiden.

Die zusätzliche Verfügbarkeit von ärztlichen, pflegerischen oder palliativen Kapazitäten sollte sich über eine relevante Vergütung und machbare Organisationsmodelle der Zusammenarbeit erzielen lassen, heißt es in dem Papier. Neue Strukturen seien nicht notwendigerweise aufzubauen, jedoch sei die Verfügbarkeit bedarfsgerecht sicherzustellen. Die gegebenen, fortlaufend aktualisierten Kapazitäten für Notfallbehandlungen im stationären und ambulanten Sektor sollten für die beteiligten Dienste jederzeit sichtbar und abrufbar sein. Eine sektorenübergreifende Bedarfsplanung würde dabei das Ziel einer bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Notfallversorgung deutlich erleichtern. Ergänzend heißt es, dem Rettungsdienst würden über die vorgeschlagene Verzahnung mit den vertragsärztlichen Angeboten Zugriffsmöglichkeiten auf Leistungen und Dienste des SGB V gewährt – dies sei auch ein wichtiges Signal zum Aufbau gemeinsamer Strukturen und ein wichtiger Anreiz zur Kooperation zwischen den Versorgungssektoren.

Verantwortung bei den KVen – Krankenhäuser können ermächtigt werden

Unter dem Punkt „veränderter ambulant-stationärer Übergang“ raten Expertinnen und Experten des Panels wegen der zu erwartenden Schwierigkeiten davon ab, die „große Lösung“ der Integrierten Notfallzentren sofort flächendeckend einzuführen. Sie schlagen aber vor, die Bahnungsentscheidung, die im Konzept des SVR nach der Klärung im INZ getroffen würde, vorzuverlegen und an die Ersteinschätzung im vorstationären Bereich anzubinden. Die Klärung und Entscheidung, welcher weitere Behandlungsort angemessen sei, könne zwar aufgrund einer fehlenden differenzierten Diagnostik nicht allumfassend getroffen werden; in der überwiegenden Zahl der Fälle sei dies jedoch durch die algorithmisch unterstützte Ersteinschätzung zusammen mit der medizinischen Expertise vor Ort möglich. Zweifelsfälle, die nicht fallabschließend ambulant diagnostiziert und behandelt werden können, müssten dann einem Krankenhaus dafür zugewiesen werden. Dazu werde der „gemeinsame Tresen“ als Ort der vorstationären Ersteinschätzung vor der Krankenhausaufnahme in die Verantwortung der KVen überstellt. Die KV übernehme dort die Verantwortung für das „letzte Wegstück der ambulanten Versorgung“ und entscheide über den Verbleib im ambulanten System bzw. über die Überweisung in die stationäre Diagnostik und Therapie.

Zusammenfassend heißt es, die Festlegung, ob eine ambulante Behandlung im vertragsärztlichen System oder eine stationäre Aufnahme geboten sei, werde für alle Patientinnen und Patienten am Krankenhaus 24/7 in die Verantwortung der KVen gelegt. An den Standorten von stationären Notfallaufnahmen erfolge eine vorstationäre vertragsärztliche Einschätzung der Krankheitsschwere, soweit keine vitale Gefährdung erkennbar sei. Zur Ersteinschätzung könnten auch einfache diagnostische Leistungen vom Krankenhaus angefordert werden, wenn dies die weitere Bahnung der Patientinnen und Patienten erleichtere. Die KV könne gegebenenfalls auch Krankenhauspersonal mit dieser Aufgabe betrauen, aber die Verantwortung für dieses „letzte Wegstück“ der ambulanten Versorgung nicht an das Krankenhaus abgeben. Sollten am oder im Standort nicht genügend vertragsärztliche Kapazitäten zur Verfügung stehen, könne das Krankenhaus zur vertragsärztlichen Behandlung ermächtigt werden.

Zum Thema Standortentscheidung für die stationäre Notfallversorgung durch die Länder heißt es, es wäre zielführend, die zu erwartenden grundlegenden Strukturänderungen der Versorgungslandschaft mit der Reform der stationären Notfallversorgung zu verbinden. Aufgrund der bereits erfolgten und eingeleiteten Vorarbeiten sei es aber vertretbar, die Reform der Notfallversorgung vorzuziehen. Dabei spricht sich das Panel dafür aus, die Auswahl der Krankenhäuser mit Notfallaufnahmen gesetzlich den Krankenhaus-Planungsbehörden im Rahmen ihrer Sicherstellung zu übertragen. Die Entscheidungen müssten die Auswirkungen auf die Rettungsdienste berücksichtigen und seien im Benehmen mit den für das Rettungswesen zuständigen Fachbehörden, den Krankenhausgesellschaften und den Krankenkassen zu treffen. Es sei zu prüfen, ob die Sicherstellungsverantwortung der KVen für die ambulante Versorgung eine Einvernehmungspflicht zwischen Land und KV bei der Standortauswahl auslöse. In diesem Fall wäre eine Entscheidung in einem definierten Zeitraum zu treffen. Die Ausweisung der entsprechenden Standorte werde Teil der Landeskrankenhausplanung. Um ein bundesweit abgestimmtes Vorgehen bei der Auswahl zu ermöglichen, solle der G-BA beauftragt werden, Empfehlungen für Indikatoren, Maßzahlen oder andere Bedingungen zur Ausweisung von Krankenhäusern mit Notfallaufnahmen zu entwickeln und den Ländern zur Verfügung zu stellen.

Um die „neue Gemeinsamkeit“ auf allen Ebenen zu entwickeln und zu gewährleisten, gelte generell, dass jede weiterbehandelnde Stelle einen Online-Zugriff auf die vorgelagert erhobenen Informationen haben soll. Alle ambulant zur Verfügung stehenden ärztlichen und sonstigen unterstützenden Ressourcen sollen online von jeder Ebene der Notfallversorgung einzusehen und abzurufen sein. Dies schließe ausdrücklich ein, dass die ambulanten, haus- und fachärztlichen Behandlungsmöglichkeiten incl. des aufsuchenden KV-Notdienstes innerhalb und außerhalb der Sprechzeiten jederzeit transparent sein müssten. Die KV habe diese Transparenz zu gewährleisten.

Ziel der Reform der Notfallversorgung sei eine schnelle und abgestimmte Versorgungskette ohne Schnittstellenverluste und Fehlallokationen. Auf allen Ebenen seien fachlich begründete Entscheidungen über den der Krankheitsschwere angemessenen Behandlungsort und -zeitpunkt zu treffen. Wenn es eine fachliche Wahlmöglichkeit gebe, gelte das Primat der ambulanten Versorgung. Die mit der Reform verbundenen Veränderungen würden eine hohe Kooperationsbereitschaft aller beteiligten Stellen und Dienste voraussetzen. Dazu seien klar strukturierte und verlässliche Strukturen und Abläufe sowie unterstützende Optionen vorzuhalten, die auch über die bisherigen Zuständigkeiten hinweg nutzbar sein müssten. Nur wenn solche „Gelingensbedingungen“ gewährleistet werden, könne zwischen allen beteiligten Hilfssystemen eine Kultur des gemeinsamen Handelns und eine bessere Versorgung der Patientinnen und Patienten ermöglicht werden.

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