Die Implementierung von Case Management für einen besseren Zugang zur Versorgung

08.06.2022, Prof. Dr. Wolf Rainer Wendt
Interviews & Kommentare

Die Menschen besser erreichen
Zur Ausführung der Sozialleistungen sind die Leistungsträger in Deutschland verpflichtet, „darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält“ (§ 17 SGB I). Das ist nicht leicht zu machen. Aus gutem Grund heißt im Programm des Case Managements die erste Phase im Verfahren „Outreach“. Gefragt ist, wie die leistenden Stellen ihre Zielpersonen erreichen und wie diese zu den Diensten kommen, derer sie bedürfen. In dieser Hinsicht ist in der sozialen und gesundheitlichen Versorgung noch viel Besserung möglich. Und in der Implementierung von Case Management besteht Veranlassung, die Zugänglichkeit von Diensten für Menschen und ihren Zugang zu einer benötigten Versorgung auszubauen.
Der Hemmnisse gibt es viele. Hilfestellung soll umfassend sein, aber disziplinär kommt man der Komplexität von Problemen nicht nach. Von ihnen Betroffene wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen, und wenn ihnen aus der einen oder anderen fachlichen Ecke zu einem Weg geraten wird, kann es auch der falsche sein. Zwischen Versorgungssektoren fehlt es an Übergängen. Es gibt zwar diverse Anlauf- und Beratungsstellen und online lässt sich auch viel herausfinden, Abwege inklusive. Damit finden im Einzelfall die passenden Problemlösungen und die Personen, die sie brauchen, einander noch nicht. Oft sind Dienste räumlich zu weit entfernt von ihren potenziellen Nutzern. Oder es gibt von bestimmten Fachstellen zu wenige, zum Beispiel in der Psychotherapie oder in der Nachsorge nach stationärer Behandlung. Viele Menschen stecken in ihrer Lage fest und erreichen von sich aus keine Hilfen. Man muss zu ihnen finden.

Wege bahnen
Im Versorgungssystem kommt erst nach Eintritt in es ein Fall zustande. Es sind auf organisatorischer Ebene Vorkehrungen nötig, um versorgungsbedürftige Personen oder Personengruppen zunächst zu erreichen und sie dann „zügig“ und „umfassend“ mit Hilfen und in der Bearbeitung von Problemen voranzubringen. Dass der Prozess des Zugangs und seiner Gestaltung für das Versorgungssystem – zur integrierten Behandlung bei Krankheit, bei Pflegebedürftigkeit, in der Rehabilitation, in der Kinder- und Jugendhilfe oder zur Integration in Arbeit – eine organisatorische Herausforderung darstellt, ist nicht neu und hat zu vielen Projekten und Neuregelungen angeregt.
Zustande kommt mit der Lösung des Zugangsproblems nicht gleich ein umfassendes Case Management. Zum Beispiel sind die verschiedenen Lotsen-Projekte nicht auf eine durchgehende Begleitung im Versorgungsprozess und auf seine fallbezogene Steuerung angelegt. Das Konzept Case Management lässt zu, dass an seiner Umsetzung verschiedene Stellen und Fachkräfte beteiligt werden, ohne dass eine durchgängige professionelle Wegleitung stattfindet. Das Konzept Case Management bewährt sich auch darin, Ausfertigungen des Verfahrens zuzulassen, die nur in der einen oder anderen seiner Dimensionen eine angemessene Fallsteuerung leisten. In der organisatorischen Ansiedelung von Zugangslösungen und beim Personaleinsatz in ihnen muss aber auf den Zusammenhang der weiteren Versorgung gesehen werden und Kompetenz zur Weiterführung vorhanden sein, also Wissen um das Procedere in der somatischen oder psychiatrischen Behandlung, in der fachlichen Pflege und Rehabilitation, in der Jugendhilfe oder in Integrationsprozessen. Oft sind Vorhaben, welche die Erreichbarkeit von Diensten und Hilfen verbessern, nicht mit dem Etikett Case Management versehen, aber sie können mit den Standards des Verfahrens beurteilt und auf sie hin gestaltet werden.

Projekte des Hinkommens
Im vorliegenden Heft werden verschiedene Ansätze, der gesundheitlichen und sozialen Versorgung bedürftige Menschen besser zu erreichen, behandelt. International eingeführt ist Community Health Nursing, in dem ein fachlich vielseitig zusammengesetztes Team in unterversorgten Wohngebieten und insbesondere im ländlichen Raum unterwegs ist. Es kümmert sich um chronische Gesundheitsprobleme, nimmt akut notwendige Verrichtungen vor, erhebt Bedarf, veranlasst und koordiniert dessen Behebung. Eine derart breit angelegte Kompetenz bringt bei Einführung von CHN im deutschen Versorgungssystem eine Menge rechtlicher Probleme mit sich, die im Beitrag von Martin Burgi und Gerhard Igl ausführlich diskutiert werden.
In Österreich ist man mit Pilotprojekten zu Community Nursing schon etwas weiter, hier allerdings bei Konzentration auf ältere Menschen mit Unterstützungs- und Begleitungsbedarf vor Pflege. Sie sollen in ihrer häuslichen Lebenssituation erreicht werden. In ihrem Beitrag beschreiben die österreichischen Kolleginnen das Rollenprofil der in den Pilotprojekten einzusetzenden Pflegefachpersonen und ihre Aufgaben in der Fallführung, durchaus in konzeptionellem Einklang mit dem Case Management.
Wenn sich die primäre medizinische Versorgung breit aufstellt, kann sie die Kompetenz vieler Gesundheitsberufe einbeziehen – und auch Soziale Arbeit. Mit ihr lässt sich in der organisierten Fallführung diversen und komplexen sozialen Problemlagen abhelfen. Siegl, Haslmayr und Hummer berichten über diese Funktion der Sozialarbeit in den Primärversorgungseinheiten in Oberösterreich und seitens der Österreichischen Gesundheitskasse als Leistungsträger.

Über die Evaluation der Nutzung eines regionalen Pflegekompetenzzentrums (Reko), dessen Einrichtung in zwei Landkreisen in Niedersachsen erprobt wird, berichtet Manfred Hülsken-Giesler im Interview mit Thomas Klie. Es lässt sich lernen, wie in der Region mit der Organisation von Case Management für die Nutzer pflegerische Versorgung besser strukturiert werden kann. – Dazu verhelfen Patientenlotsen in Case-Management-Funktion. Bedingungen und Effekte des Einsatzes von „Onko-Lotsen“ beleuchten Florian Brandt und andere anhand des PIKKO-Projekts zur onkologischen Versorgung im Saarland. – In einem weiteren Beitrag wird ein Besuchs- und Begleitungsdienst vorgestellt, mit dem der sozialen Isolation von Personengruppen im Alter begegnet werden soll.
Ein Case Management kann vorbeugend, begleitend zu stationärer Versorgung und im Anschluss an sie in der Nachsorge angebracht sein. Menschen aus dem lokalen Umfeld eines Versorgungsbetriebs zu ihm hinzuführen, ist das eine, Menschen aus ihm abzuholen und weiter zu begleiten, das andere. Iren Steiner erläutert in einem Interview, wie in der Übergangssituation bei Nachsorge „Brücken in den Alltag“ geschlagen werden können und wie sich das mit Fachkompetenz und bürgerschaftlichem Engagement gestalten lässt.
Die Pandemie hat dazu genötigt, auf reale Besuche bei vielen unterstützungs- und pflegebedürftigen Menschen zu verzichten. Indes wurden Möglichkeiten der virtuellen Begegnung im digitalen Raum vermehrt ausprobiert. Über Erfahrungen mit Online-Angeboten, insbesondere Videokonferenzen im Rahmen eines Case Managements, berichtet Stefan Schmidt. Es zeigt sich: das Verfahren ist anpassungsfähig.
Die Digitalisierung bettet das Case Management neu. Und die Ökologie tut das auch. In ihrem Bericht zur Evaluation und Überarbeitung der Fachdokumente des Netzwerks Case Management Schweiz von Anna Hegedüs, Erich Scheibli und Jana Renker wird die Nachhaltigkeit der Zielerreichung im Verfahren fokussiert. Um sie zu erfassen, ist eine Ausweitung des Horizonts geboten, in dem sich das Case Management orientiert und in dem es die Lebenswelt und Lebensführung der Zielpersonen und das Umfeld formeller und informeller Ressourcen im Blick hat. Dazu ist auf jeder Ebene der Betrachtung eine Vernetzung angesagt, die zum ausgreifenden Vollzug des Case Managements beitragen kann.

Der vorliegende Autorenkommentar ist das Editorial der in Kürze erscheinenden Zeitschrift "Case Management 2/2022". Weitere Informationen zur Case Management 1/2022 erhalten Sie hier.

Prof. Dr.Wolf Rainer Wendt lehrt an der Universität Tübingen und an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart, wo er bis 2004 an der vormaligen Berufakademie den Studienbereich Sozialwesen leitete. Er ist Diplom-Psychologe und Case Manager (DGCC) sowie Case Manager Ausbilder (DGCC) und seit ihrer Gründung Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Case und Care Management. Bis 2009 war er auch Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) und ist seither dort Sprecher der Fachgruppe Sozialwirtschaft. Prof. Dr. Wendt ist Mitglied im erweiterten Vorstand der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft (INAS) und wirkt in verschiedenen Gremien und Beiräten sozialer Organisationen und von Hochschulen mit. Seine Arbeitsschwerpunkte sind das Case Management und das humandienstliche Versorgungsmanagement, die Sozialwirtschaftslehre und die Wissenschaft der Sozialen Arbeit.

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