Die Debatte um die Akademisierung von Gesundheitsfachberufen: Warum muss das Grundrecht der Berufsfreiheit bei der Gestaltung der Heilberufegesetze eine Rolle spielen?

11.07.2022, Prof. Dr. iur. Gerhard Igl
Interviews & Kommentare, Versorgung

Prof. Dr. iur. Gerhard Igl

Die Regulierung der Gesundheitsfachberufe lag für lange Zeit im Schatten der Gesundheitspolitik. Die entsprechenden Heilberufegesetze erfuhren außer bei Berufs- und Fachverbänden kaum breitere Beachtung. Für die Rechtswissenschaft waren diese Gesetze uninteressant. Die Gerichte mussten sich – selten – allenfalls mit dem Entzug der Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung befassen. So konnten die entsprechenden Berufsgesetze fast ungestört vor sich hin altern. Dieses Vor-sich-hin-Altern hätte vom Gesetzgeber unbeachtet so weiter gehen können, wenn nicht, so besonders vernehmlich bei den Pflegefachberufen und bei den Hebammen, die entsprechenden Berufsverbände auf Modernisierung gedrungen hätten. Dabei half beiden Berufen eine EU-Richtlinie (2005/36/EG), die dem Gesetzgeber Hausaufgaben für diese Modernisierung vorschrieb. Nur diese beiden Berufe hatten eine Unterstützung durch die Richtlinie, die anderen Gesundheitsfachberufe nicht. Für beide Berufe gibt es jetzt ein Hochschulstudium. Bei den Hebammen ist das duale Hochschulstudium künftig der einzige Ausbildungsweg, weil die genannte Richtlinie das Hochschulstudium für die Hebammen vorschreibt. Anders ist es bei den Pflegefachberufen. Hier äußert sich die Richtlinie nicht dazu. Der Gesetzgeber hat sich aber dazu entschieden, neben der berufsfachschulischen Ausbildung auch eine hochschulische Primärqualifikation zu eröffnen.

Für einen anderen Gesundheitsfachberuf, die medizinischen Technologinnen und Technologen, hat sich der Gesetzgeber trotz entsprechender Bekundungen der Berufsverbände nicht dazu in der Lage gesehen, neben der berufsfachlichen auch eine hochschulische Ausbildung anzubieten. Bei den Therapieberufen gibt es deutliche, auch gemeinsame Äußerungen der Verbände der Therapieberufe für eine hochschulische Ausbildung. Die Verbände der Logopäd:innen (Stimm-, Sprech- und Sprachtherapeut:innen) plädieren für eine Umstellung insgesamt der Ausbildung in Richtung auf ein Hochschulstudium, ebenso die Berufsverbände der Orthoptist:innen und Diätassistent:innen. Was noch aussteht, ist eine entsprechende Empfehlung des Wissenschaftsrates, die für das Frühjahr 2022 vorgesehen war, aber in den Herbst dieses Jahres verschoben worden ist.

Die Gründe für die Möglichkeit, und, wenn man will, auch für die Notwendigkeit der Einführung einer hochschulischen Qualifikation für diese Gesundheitsfachberufe sind hinlänglich bekannt und breit, sicher auch kontrovers, diskutiert worden. Erstaunlich ist, dass bei dieser Diskussion bis jetzt ein zentrales Argument für die Einführung der hochschulischen Qualifikation nicht zum Tragen gekommen ist: Die Beachtung der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit bei der Gestaltung von Heilberufegesetzen. Diese Berufsfreiheit entfaltet ihre Wirkung nicht nur bei der Abwehr von Eingriffen in bestehende Berufe, sondern auch bei der Gestaltung von Berufen für die zukünftigen Berufsangehörigen. Die Zukunftsdimension von Grundrechten ist vom Bundesverfassungsgericht jüngst auf dem Gebiet des Klimaschutzes hervorgehoben worden. Die in Artikel 12 Abs. 1 Grundgesetz garantierte Berufsfreiheit ist auch so zu verstehen, dass der Gesetzgeber die Ausbildungsmöglichkeiten so zu gestalten hat, dass die künftigen Berufstätigen eine den gegenwärtigen und zukünftigen An- und Herausforderungen adäquate Ausbildung genießen können. Es ist heute für viele berufliche Betätigungsbereiche unbestritten, dass eine hochschulische Qualifikation dazu dient, diesen An- und Herausforderungen gerecht zu werden oder sogar Voraussetzung dafür ist.

Nicht mehr nachvollziehbar ist, warum gerade für die fachlich hochstehenden qualitativen Anforderungen an die Ausbildung der Gesundheitsfachberufe eine solche Qualifikation nicht durchgehend bereitgestellt wird. Bei den Gesundheitsfachberufen ist eine eigentümlich kontroverse politische Diskussion dazu geführt worden. Dabei beziehen sich die gegen eine hochschulische Qualifikation vorgebrachten Argumente nicht auf die Ausbildungsqualität und die künftigen beruflichen Qualifikationsanforderungen, sondern eher auf Besitzstands- und Finanzierungsfragen. Nicht im Blickfeld ist, dass dem Bundesgesetzgeber gerade aus der Gesetzgebungszuständigkeit für die Zulassung zu den Heilberufen eine Verpflichtung erwächst, die berufsfreiheitlichen Anliegen der künftigen Angehörigen von Gesundheitsfachberufen zu respektieren. In Wahrnehmung dieser Verpflichtung kommt er gleichzeitig seiner Verpflichtung nach, dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung durch eine entsprechende hochqualifizierte Ausbildung der Gesundheitsfachberufe Rechnung zu tragen. Es versteht sich von selbst, dass diese Erwägungen auch für die an der Gesetzgebung beteiligten Bundesländer gelten. Leider sind es gerade die der hochschulischen Ausbildung besonders verpflichteten Länder, die sich hier sehr zögerlich verhalten.

Prof. Dr. iur. Gerhard Igl arbeitete ab 1976 als wissenschaftlicher Referent am Max-Planck- Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. Ab 1985 war er Professor an der Universität Hamburg, 1996 wechselte er an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wo er bis zu seiner Pensionierung im September 2014 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht innehatte und geschäftsführender Vorstand des Instituts für Sozialrecht und Gesundheitsrecht war. Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem im deutschen und europäischen Sozialrecht, im Gesundheits- und Pflegerecht, im Recht der älteren Menschen und im Recht des bürgerschaftlichen Engagements. Er ist Vorstandsmitglied des Vereins zur Förderung eines Nationalen Gesundheitsberuferates e.V. Als Autor des medhochzwei Verlags hat er Kommentare zu den Heilberufegesetzen veröffentlicht. Demnächst erscheint von ihm der Kommentar zum Gesetz über die Berufe in der medizinischen Technologie.

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