3 Fragen an Prof. Dr. Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik

05.08.2022, Dr. Stefan Arend, ProAlter
Pflege, Politik & Wirtschaft, Heilberufe, Recht, Interviews & Kommentare


Prof. Dr. Reiner Anselm

Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, das den Paragrafen 217 Strafgesetzbuch, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellte, für nichtig erklärte, haben drei Abgeordnete bzw. Gruppen von Abgeordneten dem Bundestag Gesetzesentwürfe für eine „gesetzliche Regulierung der Suizidbeihilfe“ vorgelegt, die nun um Zustimmung und Mehrheiten im Parlament buhlen.
Können Sie uns in prägnanter Form die Positionen und Haltungen beschreiben, die die Gesetzesentwürfe kennzeichnen?

Jede gesetzliche Regelung muss den Ausgleich zwischen dem Schutz des Lebens und dem Schutz der Selbstbestimmung suchen. Die drei Vorschläge setzen hier unterschiedliche Akzente. Der Entwurf der Gruppe um Lars Castellucci stellt den Lebensschutz in den Vordergrund und möchte deswegen eine Regelung im Strafgesetzbuch. Durch einen revidierten § 217 wird die Suizidhilfe grundsätzlich unter Strafe gestellt. Dies soll, ebenso wie ein Werbeverbot in einem § 217a ganz deutlich machen, dass Suizidbeihilfe nicht zur gesellschaftlichen Normalität werden soll. Wenn allerdings eine bestimmte Prozedur der Beratung eingehalten wird, bleibt Suizidhilfe straffrei. Dagegen stellt der Entwurf von Katrin Helling-Plahr den Schutz der Selbstbestimmung ins Zentrum und legt das Augenmerk vor allem darauf, eine psychische Erkrankung als Grund für den Suizidwunsch auszuschließen. Im Mittelpunkt steht der Schutz der Selbstbestimmung durch ein fachärztliches Gutachten. Renate Künast wiederum ist vor allem daran interessiert, Menschen mit einer zum Tode führenden Krankheit ein aufwendiges Verfahren zu ersparen. Für den Fall eines Wunsches nach Suizidhilfe bei nicht zum Tod führenden Krankheiten ist auch hier ein Beratungsverfahren vorgesehen, allerdings ohne Beteiligung von Ärztinnen bzw. Ärzten.

Heribert Prantl hat seinen vielbeachteten Kommentar in der Süddeutschen Zeitung zu den aktuellen politischen Positionen sehr pointiert mit „Sterbeprüfung“ überschrieben. Er kritisiert in seinem Text die Entwicklung zu immer mehr Beratungszwang und einer strengen Prozessorientierung. Verstehen Sie seine Sorge und seine Bedenken?

Ja, ich finde seine Bedenken sehr berechtigt. Denn je stärker der Gesetzgeber versucht, den Weg zum assistierten Suizid über ein genau festgelegtes Verfahren zu regulieren, umso größer ist die Gefahr, dass diese Verfahren eine Eigendynamik entwickeln und die Sterbewilligen nurmehr einen Schritt nach dem anderen gewissermaßen abarbeiten. Dann folgt Eins aufs Andere und es tritt genau die Normalisierung ein, die man vermeiden will. Sterben wird so zum Abarbeiten einer Checkliste, für die man, wenn sie zu kompliziert wird, eben die Hilfe entsprechender Vereine in Anspruch nimmt. So fördert eine solche Regulierung gerade die organisierte Suizidbeihilfe, was man doch eigentlich vermeiden wollte.

Die erste Lesung im Bundestag hat Ende Juni stattgefunden, man hört, dass das parlamentarische Verfahren bis zum Spätherbst 2023 abgeschlossen werden soll. Blicken wir zusammen in die Glaskugel: Was wird wohl am Ende des Prozesses stehen? Ein belastbares, zukunftsfähiges und allseits akzeptiertes neues Gesetz oder der Beginn weiterer gesellschaftlicher mehr oder minder heftiger Auseinandersetzungen?

Mein Eindruck ist, dass eine Regelung, die nur wenige Vorgaben macht, die primär auf Suizidprävention und ein flächendeckendes, leicht zugängliches Angebot von Beratungsstellen setzt, einen allgemein akzeptierten Weg darstellen könnte. Wenn es darüber hinaus gelingt, auch die Ärztinnen und Ärzte, die den Patientinnen und Patienten nahestehen, für eine solche Beratung zu gewinnen, wäre viel erreicht. Zu detaillierte Vorschriften werden aber nach meiner Einschätzung erneut Unsicherheiten und neue gerichtliche Auseinandersetzungen zur Folge haben. Um das zu erreichen, müssten alle drei vorliegenden Entwürfe sich aufeinander zu bewegen. Und das Wichtigste ist: Wir müssen dazu kommen, dass Menschen über ihre Bedürfnisse und Wünsche am Ende des Lebens sprechen. Tabus und Stigmatisierungen helfen – und schützen – niemanden.

 

Prof. Dr. Reiner Anselm (*1965) ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Zusammen mit Prof. Dr. Isolde Karle und Ulrich Lilie hat der am 11. Januar 2021 in einem beeindruckenden und vielzitierten Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für einen „assistierten professionellen Suizid“ geworben. Er ist auch im aktuellen Gesetzgebungsverfahren wichtiger Berater in den Anhörungen und politischen Diskussionen.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem ProAlter Newsletter 8-2022. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

Anzeige
Anzeige