3 Fragen an… René Schwerdtel, Weltreisender und Fotograf

06.03.2023, Solveig Giesecke, KDA
Interviews & Kommentare

Lieber Herr Schwerdtel, die Portraits, die Sie auch beim Festakt des Kuratoriums Deutsche Altershilfe im Oktober 2022 in Berlin ausgestellt haben, zeigen Menschen, die 100 Jahre oder älter sind. Die Aufnahmen entstanden auf unterschiedlichen Kontinenten. Gibt es etwas, was all diese Menschen im Alter eint?

Ja. Meiner persönlichen Beobachtung nach handelt es sich im Allgemeinen um aktive und interessierte Menschen mit viel Humor, die allesamt nicht im Reichtum geschwommen sind. Viele hatten auch zeitweise eine sehr karge Ernährung (Kriegszeiten, Wirtschaftskrisen). Übergewichtige Hundertjährige habe ich nicht getroffen. Und viele nehmen keinerlei Medikamente. Und fast alle haben sehr lange gearbeitet. In Sardinien gibt es sogar Hundertjährige, die noch berufstätig sind.

Der bekannte kubanische Arzt Prof. Dr. Selman, mit dem ich in Kuba fast 100 Hundertjährige besucht habe, hat in seinem Buch „Vivir 120 años“ drei Regeln zur Langlebigkeit aufgestellt: 1) Du sollst NICHT in Rente gehen, 2) soziales und kulturelles Interesse (vom Gesangsverein bis zum Spieleabend), 3) keinen langen und großen Streit in der Familie hochkochen lassen. In Okinawa/Japan habe ich mit Prof. Makoto Suzuki zusammengearbeitet, er legt Wert auf Ikigai. Das würde ich zum Teil mit Leidenschaft oder Berufung übersetzen. Man muss etwas im Alter haben, wofür man gerne früh aufsteht, und man muss fühlen, dass man „gebraucht“ wird. Egal ob Enkel, Wanderfreunde, Modelleisenbahn – eine Aufgabe muss sein.

 

Was fasziniert Sie am meisten, wenn die Portraitierten ihre Geschichten erzählen?

Die Vielfalt der Geschichten und Erfahrungen. Und der Wortwitz der Senioren. Die nehmen kein Blatt vor den Mund, sie haben ja kein Image mehr aufrechtzuerhalten. Die sagen frank und frei ihre ehrliche Meinung! Vom Chefdozenten der DDR Militärakademie bis hin zum einfachen Landarbeiter in Costa Rica, der noch mit 104 Gedichte schreibt, um die Damenwelt zu verführen – das sind alles Berichte, Schicksale und Stories aus erster Hand. Ich lerne unheimlich viel von diesen Zeitzeugen, und ihre durchweg positive Lebenseinstellung kann uns allen als Beispiel dienen. Es wäre schade, wenn dieser Erfahrungsschatz verloren gehen würde.

 

Was denken Sie, woran liegt es, dass wir das Alter hier, bei uns in Deutschland, verdrängen, es vielleicht weniger wertschätzen als andere Kulturen?

Individualismus, „Größer, weiter, schneller“-Mentalität, Verlust der Großfamilien, Medien, fehlende Bildung, Werbung – da läuft vieles falsch und zwar nicht erst seit heute. Bei den Seniorinnen und Senioren gibt es so viel Lebenserfahrung und Hilfsbereitschaft – dieses Potential nutzen wir in Deutschland kaum. Aus Mangel an Kontakten wird den Alten pauschal unterstellt, sie verstünden die moderne Welt nicht. Dem ist aber nicht so. In anderen Ländern funktioniert der Zusammenhalt deutlich besser, angefangen bei unseren Nachbarn in Frankreich und Italien, aber auch in den Niederlanden, Skandinavien und in Osteuropa.

Das Interview führte Solveig Giesecke, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit KDA und ist in voller Länge in der Ausgabe 1/2023 von ProAlter erschienen.

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