Experten-Vorschlag: Private Versicherung soll Entlastung bei Pflegekosten bringen

19.04.2023, Sven C. Preusker
Pflege, Politik & Wirtschaft

Ein vom Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV-Verband) eigesetzter Experten-Rat zum Thema „Pflegefinanzen“ hat jetzt ein Konzept für eine private Pflegekostenversicherung vorgestellt, das bei den hohen Eigenanteilen bei den Pflegekosten im stationären Bereich Entlastung bringen soll.

Die Ampel-Koalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart zu prüfen, wie die soziale Pflegeversicherung um eine „paritätisch finanzierte Vollversicherung“ ergänzt werden kann, die „die Übernahme der vollständigen Pflegekosten umfassend absichert“. Das von der PKV eingesetzte, unabhängige und interdisziplinäre Gremium hat dafür nun einen Vorschlag erarbeitet. Laut dem Vorsitzendendes Rats, Prof. Dr. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen, drückt der Schuh am meisten beim hohen Eigenanteil zu den Pflegekosten im stationären Bereich. Dieser einrichtungseinheitliche Eigenanteil (EEE) liege mittlerweile im Bundesdurchschnitt bei über 1.200 Euro, so der Verband. 

Genau hierauf gibt der Experten-Rat, bestehend aus Wasem, Prof. Dr. Christine Arentz von der Technische Hochschule Köln, Prof. Dr. Thiess Büttner von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. Christian Rolfs von der Universität zu Köln und Constantin Papaspyratos vom Bund der Versicherten nun eine Antwort. Wasem ist überzeugt: „Wir denken, dass wir einen Vorschlag erarbeitet haben, der eine ernstgemeinte Antwort auf die Problemanalyse gibt.“ Als wichtigsten Bestandteil des Vorschlags nannte er, dass die Eigenanteile an den Pflegekosten im Kapitaldeckungsverfahren und nicht im Umlageverfahren finanziert werden solle.

Eckpunkte des Reformvorschlags sind die Einführung einer obligatorischen, kapitalgedeckt finanzierten Zusatzversicherung („Pflege-Plus“) verknüpft mit einem Annahmezwang für die Versicherungsunternehmen, ohne individuelle Gesundheitsprüfung und ohne Vertriebsprovision. Die Kalkulation soll dabei eine automatische Dynamisierung zur Inflationssicherung enthalten, Kinder sollen beitragsfrei versichert werden, Rentner zahlen nur den halbierten Beitrag. Versichert sind die beim Pflegebedürftigen verbleibenden pflegebedingten Eigenanteile im Pflegeheim – bis auf einen Selbstbehalt von zehn Prozent. Der Beitrag würde laut der Experten rechnerisch bei rund 39 Euro pro Monat für das Einstiegsalter von 20 Jahren und rund 48 Euro für 40-Jährige (bei Arbeitnehmern jeweils zur Hälfte paritätisch vom Arbeitgeber bezahlt) liegen. Bis 45 Jahre steigt der Beitrag auf 52 Euro, ebenso 52 Euro würden 45- bis 66-Jährige zahlen. 

Arentz begründete die Entscheidung für die Kapitaldeckung damit, dass eine Stärkung des Umlageverfahrens zu „unsystematischen Umverteilungswirkungen zwischen den Generationen“ führen würde. Denn damit würden die heute Jüngeren auch für Personen bezahlen, die bereits selbst vorgesorgt haben und das Pflegerisiko finanziell aus eigenen Mitteln stemmen könnten – das seien immerhin rund zwei Drittel aller Pflegebedürftigen. Der Kapitaldeckungs-Vorschlag des Experten-Rats vermeide damit also eine Umverteilung zu Gunsten finanziell besser Gestellter.

Experten halten Versicherungspflicht für Absicherung des Pflegerisikos notwendig

Zudem sei der Beitrag in einem privaten Versicherungsmodell fair, betonte Büttner: „Die gezahlten Prämien entsprechen den erwarteten Leistungen.“ Mit heute 4,3 Millionen Verträgen würden indes die heutigen freiwilligen Pflegezusatzversicherungen zu wenig genutzt. Das liege an einer Unterschätzung des Langfrist-Risikos Pflege, so Büttner. Dafür sei die Politik mitverantwortlich, weil die bloße Existenz der Sozialen Pflegeversicherung eine ausreichende Abdeckung des Risikos suggeriere. Deshalb solle das Versicherungs-Modell des Experten-Rats verpflichtend für alle sein.  

Die Ansicht, dass eine flächendeckende Lösung über freiwillige Zusatzversicherungen schwierig sei, vertrat auch Papaspyratos, schon allein deswegen, weil der Bedarf nicht ausreichend kommuniziert werde. Zum anderen müsse man beim Abschluss einer Versicherung als 20-Jähriger ein Risiko absichern, dass in der Regel erst rund 65 Jahre später eintrete. Diese Unsicherheit führe häufig zu einem Aufschub des Versicherungsabschlusses.

Einen weiteren Vorteil einer Versicherungs-Lösung sieht Rolfs: Die Rücklagen der Versicherten seien so vor fremdem Zugriff geschützt, ein Kapitalstock unter dem Dach der Sozialversicherung sei dagegen nicht vor Zweckentfremdungen durch die Politik sicher. Dafür gebe es zahlreiche Beispiele – so etwa beim Pflegevorsorgefonds. Beim Konzept des Expertenvorschlags gelte hingegen: „Die Pflege ist sicher.“

Dr. Florian Reuther, Direktor des PKV-Verbands, dankte dem Experten-Rat für den umfassenden Vorschlag und betonte: „Es muss jetzt schnell gehandelt werden. Die angekündigte Pflegereform des Bundesgesundheitsministers liefert keine Lösung für eine dauerhafte Finanzierung der Pflege und wird das Problem langfristig sogar verschärfen.“ Der Vorschlag des Experten-Rats hingegen nehme Rücksicht auf die politischen Vorgaben des Koalitionsvertrages und könne noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden: „Wir werden den Vorschlag der Experten-Kommission in die politischen Prozesse einbringen, denn es ist höchste Zeit zum Handeln. Die Diskussion ist eröffnet.“

AOK: „zu kurz gefasst“

Als zu kurz gefasst kritisierte der AOK-Bundesverband die Vorschläge. Dass die Finanzierung kapitalgedeckt erfolgen solle, sei der falsche Weg: „Das alles lässt sich auch weitaus schlanker über die jetzige Umlagefinanzierung der Sozialen Pflegeversicherung organisieren, zumal die zwingende Voraussetzung für eine Umsetzung auch die regelhafte Leistungsdynamisierung innerhalb der Sozialen Pflegeversicherung sein müsste“, konstatierte die Vorstandsvorsitzende Carola Reimann. Mit der Anpassung der Pflegebeiträge, Zuschüssen aus Steuermitteln, der regelhaften Aufstockung des Pflegevorsorgefonds sowie der Möglichkeit zum Abschluss privater Pflegezusatzversicherungen gäbe es bereits eine ganze Reihe von möglichen Hebeln. „Aus unserer Sicht sollten zunächst diese in der Koalition längst verabredeten Lösungswege konsequenter beschritten werden“, so Reimann.

Auch der Verband der Ersatzkassen (vdek) sieht die Vorschläge kritisch. Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des vdek: „Das Problem der steigenden Eigenanteile in der stationären Pflege zu lösen, bleibt eine zentrale Herausforderung der Ampelkoalition. Den Vorschlag des PKV-Verbandes, eine verpflichtende private Zusatzversicherung mit altersabhängigen Beiträgen einzuführen, lehnen wir jedoch ab. Eine kapitalgedeckte Versicherung mit Altersrückstellungen ist bekanntlich aufgrund der Abhängigkeit vom Kapitalmarkt mit hohen Risiken verbunden. Zudem unterliegen private Angebote der Maxime der Gewinnerzielung, was deren Attraktivität aus Versichertensicht weiter schmälert.

Besser als neue Produkte zu erfinden, wäre es, die Hausaufgaben zu machen. So sollte sich die private Pflegeversicherung dringend am Finanzausgleich der SPV beteiligen und somit auch ihren Beitrag zum Solidarausgleich leisten. Bei gleichen Leistungsvoraussetzungen und -ansprüchen für gesetzlich und privat versicherte Pflegebedürftige sind die Pflegerisiken höchst unterschiedlich verteilt. Dies hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die privaten Versicherungsunternehmen neben den individuellen Altersrückstellungen große Überschüsse erwirtschaften konnten. Ein Finanzausgleich würde die SPV jährlich um rund zwei Milliarden Euro entlasten.”

Thomas Knieling, Bundesgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB), sagte: „Die Ampel-Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag verabredet, dass die Pflegeversicherung um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung ergänzt wird. Dies soll eine Übernahme der vollständigen Pflegekosten generationengerecht absichern. In Bezug darauf sind die Ansätze des vorgestellten Abschlussberichtes durchaus interessant. Allerdings wurde dabei nur die reine Finanzierungsreform in den Blick genommen. Da die professionelle Pflege aber auch insbesondere im Hinblick auf fehlende personelle Ressourcen unter Druck steht, würde eine reine Finanzierungsreform zu kurz greifen. Sie müsste vielmehr Teil einer großen Strukturreform werden, die dann auch Leistungen und Personaleinsatz in Zukunft an die begrenzten Ressourcen anpasst. Die flächendeckende Versorgungssicherheit über leistungsfähige Pflegeunternehmen muss oberstes Ziel sein. Wir werden unabhängig davon weiter engagiert den ‚New Deal‘ für die professionelle Pflege einfordern und aktiv daran arbeiten.“

Das Papier des Expertenrats steht hier in der Kurzfassung zum Herunterladen zur Verfügung.

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