Deutschland übermüdet im unteren Mittelfeld?

14.09.2023, Michael Wieden Experte und Keynotespeaker für Schlaf & Chronobiologie in BGM, HRM und HSE
Interviews & Kommentare, Wissenschaft & Forschung

1979 gab es eine Erhebung des Schlafmedizinischen Zentrums in München über die durchschnittliche Schlafdauer der Deutschen an Arbeitstagen. Das Ergebnis damals: 8,5h. Dabei ist wichtig zu beachten, dass eine Durchschnitts­betrachtung bedeutet, dass es Menschen mit einer geringeren, aber auch einer noch längeren Schlafdauer als 8,5h gab. In einer 2013 durchgeführten Umfrage (Forsa) sah das schon anders aus. Durchschnittlich 7h, also ganz 90min weniger, ergab die damalige Befragung des Panels. Eine Umfrage (Forsa) aus 2016 ergab sogar eine durchschnittliche Schlafdauer von 6,5h. Eingependelt hat sich in mehreren Veröffentlichungen eine durchschnittliche Schlafdauer in Deutschland von aktuell 7h.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Mensch einen solchen extremen Rückgang der Schlafdauer nicht einfach per „High-Speed-Evolution“ rückstandslos verkraftet. 7h durchschnittlicher Schlaf wird zwar häufig als „ausreichend“ bezeichnet, was mir jedoch regelmäßig Kopfschmerzen bereitet. Denn auch 7h bedeutet überwiegend, mit dem Wecker aufzuwachen. Und wenn man nicht zu Ende schläft, kann der Körper seine wichtige Regenerationsarbeit nicht zu Ende führen. Dies zumal von der Schlafkürzung vor allen die psychische Regeneration betroffen ist.

Wo liegt Deutschland in Sachen Schlafdauer?

Nun zeigt eine Erhebung von "Bed Kingdom", laut eigenen Angaben "UK 's Leading online retailer of Bedroom Furniture products", welche Länder ausgeschlafen und welche eher verschlafen sind. Die durchschnittliche Schlafdauer lässt sich daraus nicht entnehmen, einzig der Anteil an Menschen die 7h+ pro Tag schlafen.

Es zeigt sich erneut, dass sich Deutschland tatsächlich mit Platz 19 von 28 nur in der unteren Hälfte der Skala aufhält. Die ausgeschlafensten 3 Länder sind Finnland, Niederlande und Schweden.

Dabei findet sich ein interessanter Aspekt. Wer nun glaubt, dass die Deutschen ja auch am meisten arbeiten, irrt sich. Mit durchschnittlich 1.574 Arbeitsstunden pro Jahr, liegt Deutschland auf dem letzten Platz, während Ungarn mit 1.848h die meiste Arbeitszeit von seinen Bewohnern abverlangt, und in Sachen Schlafdauer aber auch ganz am Ende rangiert. Was also können Ursachen für die Unausgeschlafenheit der Deutschen sein? Aufgrund der Datenlage kann man natürlich nur spekulieren, aber lasst uns das einmal tun.

Schichtarbeit

Schichtarbeit fällt als maßgebliche Ursache wohl aus. Im europaweiten Vergleich liegt Deutschland in Bezug auf Arbeitnehmer*innen in der Schichtarbeit im unteren Drittel, und somit auch unter dem europäischen Durchschnitt.

Fernsehen/Soziale Medien

Eine der Lieblingsbeschäftigungen der Deutschen ist eindeutig die Mediennutzung. Da wird abends auch mal schnell das Schlafen „verpennt“. Bei aufregender Mediennutzung (diverse Spiele, aufregende Filme, aggressive Kommunikation auf SM etc.) verhindert dabei das Stresshormon Cortisol, dass Melatonin ausgeschüttet werden kann und wir müde werden. Zwar gaben die meisten Deutschen (73%) an, vor Mitternacht ins Bett zu gehen, jedoch bedeutet „ins Bett gehen“ eben nicht einschlafen. Laut der gleichen Erhebung schlafen über 40% schlecht, was andeutet, dass offensichtlich häufiger erst viel später nach dem „zu Bett gehen“ eingeschlafen wird. Dies liegt dabei nicht selten auch an der vorherigen Mediennutzung.

Schlafqualität

Ob ich gut oder schlecht geschlafen habe, kann ich schon für mich festlegen. Wie bereits angedeutet, geben 40% der Deutschen an, schlecht zu schlafen. Im europäischen Durchschnitt geben 10% der Bevölkerung an, chronische Schlafprobleme zu haben, in Deutschland sind es aber nur knapp 8%. Direkte Rückschlüsse von der Schlafqualität auf die Schlafdauer zu schließen verbietet sich natürlich ohnehin, aber auch durch die Zahlen lässt sich somit ebenso kaum ein Hinweis für Deutschlands schlechtes Abschneiden in Punkto Schlafdauer finden.

Arbeitsbeginn

Der mit Abstand häufigste Zeitbegrenzer des Schlafs ist die Arbeitszeit, bzw. genauer der Arbeitsbeginn. Das Pendant bei Kindern und Jugendlichen ist die Schule, aber da besteht in der Regel keine Wahlfreiheit. Deutschlands Bürger*innen, haben einen gewissen Drang erster sein zu wollen. Während viele Länder schon kleine sportliche Erfolge feiern und keinen ultimativen Drang haben, vorne zu stehen, hat Deutschland die Tendenz alles was links und rechts des Treppchens steht, gerne auszublenden. Da hat man schnell den 1. Platz verloren, statt den 2. gewonnen.

Aber auch das Reservieren von Liegen am Pool oder der erste Platz am Frühstücksbuffet ist aus europäischer Sicht vor allem auch (neben wenigen anderen) den Deutschen gemein.

Renner statt Penner

Das zeigt sich nicht selten auch am Arbeitsplatz. Wir haben in einem Projekt die Erfahrung gemacht, dass Mitarbeiter*innen flexible Arbeitszeiten oft nicht ausnutzen, nur um nicht als „Penner“ aufzufallen. Frühtypen stehen höher im Kurs, sind „Macher“. Also versuchen Spättypen nicht selten auf „früh“ zu machen, um in Sachen „Arbeitsbeginn“ nicht auf den hinteren Plätzen zu landen. Da sie aber nicht per se früher einschlafen können (siehe DLMO), ergibt sich ein entsprechendes Defizit. In anderen Ländern ist dieses „First Mover“-Phänomen eher weniger ausgeprägt. Ich habe aber keine valide Erhebung gefunden, die den Arbeitsbeginn in Europa vergleicht. Einzig eine Erhebung über den Arbeitsbeginn in verschiedenen Städten Europas konnte ich finden, woraus sich aber keine Rückschlüsse ziehen lassen. Zudem hat auch der Arbeitsbeginn nur in Verbindung mit der durchschnittlichen Wegezeit eine konkretere Aussage. Wer hier eine Statistik findet, gerne in die Kommentarspalte.

Siegermentalität

Dennoch: Steht den Deutschen also vielleicht der Drang der Erste sein zu wollen in Sachen Schlaf im Weg? Sprüche wie

Der frühe Vogel fängt den Wurm, Morgenstund hat Gold im Mund, Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (gegenteilige Redewendung) oder auch das archaische „Schlafen kann ich, wenn ich Tod bin“ sind auf jeden Fall noch weitverbreitet und auch in den Sozialen Medien nach wie vor en vogue.

Land der Frühaufsteher

Besondere Auswüchse zeigte diese Einstellung in Sachsen-Anhalt. Als „Land der Frühaufsteher“ propagierte es diesen Drang „Erster“ sein zu wollen, zwischen 2005 und 2014 mit seltsamer Logik.

Das ist ja genau die Botschaft von Sachsen-Anhalt: Wir wollen früher Trends erkennen, mit denen wir wettbewerbsfähig bleiben. Das heißt: Früh aufstehen bedeutet aufgeweckt sein und auch frisch sein und damit vor den anderen die Lösungen präsentieren. (CDU-Ministerpräsident Rainer Haseloff)

Merke: „Wer aufgeweckt ist, ist aufgeweckt worden und damit nicht ausgeschlafen!“ Und wer vor anderen unausgeschlafene Lösungen präsentiert, ist vielleicht erster, aber nicht zwangsläufig Bester! 2013 wurde der Slogan noch durch „Dafür stehen wir früher auf!“ ersetzt. Gut, dass man seit 2014 aber auch wieder später aufstehen darf, ohne verpönt zu sein. Jetzt ist Sachsen-Anhalt das „Ursprungsland der Reformation“. Dem ist nicht zu widersprechen.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem Welt der Krankenversicherung Newsletter 9-2023. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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