Klapper fordert wirksame Maßnahmen statt „Mindestpolitik“

18.10.2023, Sven C. Preusker
Interviews & Kommentare, Pflege

Dr. Bernadette Klapper ist seit Oktober 2021 Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK), davor war sie für die Robert Bosch Stiftung tätig. Klapper ist gelernte Krankenschwester und Diplom-Soziologin und hat an der Universität Hamburg promoviert. Die Fragen stellte KMi-Chefradakteur Sven C. Preusker.

medhochzwei: Kein Vertrauen in die Pflegepolitik der Bundesregierung, falsche Prioritäten bei der Fachkräftesicherung, fehlende Vorbereitung auf eine wachsende Zahl pflegebedürftiger Menschen in Deutschland – das sind einige der Ergebnisse einer aktuellen Umfrage unter der erwachsenen Bevölkerung zum Thema Pflege. Warum scheint die Politik – nicht erst seit dieser Legislaturperiode – so resistent und unbeweglich zu sein, was neue Ideen für die Pflege angeht?

Dr. Bernadette Klapper: Ja, tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass wenig Interesse daran besteht, die Versorgung der Menschen auch im Bereich der pflegerischen Versorgung zu verbessern und dass gerade nur das absolut Notwendigste getan wird. Pflegepolitik erscheint als Politik „der langen Zähne“. Es gibt dafür nicht den einen einzigen Grund, sondern eine Reihe schwerwiegender Hemmnisse:

  • Pflegebedürftigkeit ist nicht sexy und rührt an die Ängste der Menschen. Damit ist es per se kein attraktives Handlungsfeld für die Politik, der Positivbotschaften eher liegen.
  • Die Komplexität des Themas schreckt ab. Es gibt nicht die Selbstverständlichkeit, den pflegefachlichen Anforderungen zu folgen. Das Feld Pflege ist irgendwie überall reguliert, jeder redet mit: die Bundesländer, der Bund mit verschiedenen Ministerien, die Selbstverwaltung mit den Ärzten und den Kassen, die Träger der Wohlfahrtspflege, verschiedene Sozialgesetzbücher. Am wenigsten die Berufsgruppe selbst; sie ist nicht Teil der Selbstverwaltung, sondern wird durch Maßgaben all dieser Bereiche, teilweise sehr bürokratisch, fremdbestimmt.
  • Ein in Deutschland eigentümlich mangelndes Verständnis für die professionelle Expertise des Pflegeberufs. Professionelle Pflege wird nicht als konsistente Tätigkeit in der Gesundheitsversorgung wahrgenommen, sondern irgendwie zwischen Medizinassistenz und Angehörigenpflege. Außerdem trennt man sich nicht von dem Bild des engen Korridors körpernaher Verrichtungen. Da sieht man keinen Bedarf für Weiterentwicklung.
  • Eine Weiterentwicklung bedeutet wiederum, gegen große Widerstände der organisierten Ärzteschaft, aber auch der Leistungsträger anzutreten. Auch setzt man – gerade wegen der falschen Wahrnehmung – in weiten Teilen auf den „familiären Pflegedienst“ im ambulanten Bereich. Pflegende Angehörige werden mit brüchigen Informationen und verwirrender finanzieller Unterstützung abgespeist, zudem mit der Aufgabe allein gelassen. Eine fachliche Begleitung, die das gesamte häusliche Pflegearrangement „pflegt“, ist nicht vorgesehen.
  • Die Befürchtung, dass es teuer werden könnte. Pflege erscheint schon jetzt kaum bezahlbar, dabei feiert sich die Politik schon, wenn sie den Mindeststundensatz für Pflegefachpersonen und Pflegefachassistenz vom allgemeinen Mindestlohn absetzen kann. Es haben viele Akteure kein Interesse daran, Pflege besser auszustatten.

Vor all den Herausforderungen kapitulieren die meisten. Dann ist eher Feuerlöschen nach Bedarf oder Mindestpolitik angesagt anstatt mit wirksamen Maßnahmen mittel- und langfristig den Beruf und das gesamte Handlungsfeld weiterzuentwickeln im Interesse einer guten, gar besseren Gesundheitsversorgung.

mhz: Dreiviertel der Befragten zeigten sich auch offen dafür, Pflegefachkräften mehr Verantwortung zu übertragen – dahingehende Überlegungen haben es politisch aber schwer (z.B. die ursprünglich vorgesehene pflegerische Leitung zukünftiger Level Ii-Krankenhäuser). Woran liegt das?

Dr. Klapper: Die Frage nach mehr Verantwortung in den Pflegeberufen ist vielschichtig. Wie ich schon gerade sagte, wird die Tätigkeit in vielen Bereichen – vor allem im Bereich der häuslichen Pflege – durch eine Vielzahl von Regulierungen und Maßgaben gesteuert. Sie zielen mit Ihrer Frage aber sicher darauf ab, dass Pflegefachpersonen auch eigenverantwortlich Aufgaben in der Heilkundeausübung übernehmen. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass viele dieser Aufgaben in der Praxis bereits häufig von der Pflege ausgeführt werden, aber die Zuerkennung der Eigenständigkeit fehlt. Das bräuchten wir aber als Grundlage, damit die Level Ii-Krankenhäuser gut funktionieren können. Auch im ambulanten Bereich und in den Pflegeheimen bräuchten wir dringend mehr Handlungsspielraum. Viel Abstimmungsaufwand oder Krankenauseinweisungen ließen sich vermeiden. Politisch schwer haben es solche Lösungen aufgrund des Widerstands aus der Ärzteschaft. Deutschland hat in seiner Sozialgesetzgebung einen Arztvorbehalt definiert, der sehr weitreichend ist und praktisch alle anderen Berufe als Hilfsberufe erscheinen lässt. Was in anderen Ländern selbstverständlich ist, wird hierzulande meist von der organisierten Ärzteschaft als Möglichkeit in Frage gestellt. Hinzukommen bürokratische Hürden und Fragen der angemessenen Vergütung, was natürlich die Leistungsträger, also die Kassen kritisch sehen. Selbst kleine Schritte in die richtige Richtung erfordern große Anstrengungen, um Änderungen in der Sozialgesetzgebung durchzusetzen.

mhz: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat gerade ein Positionspapier unter dem Titel „Die Pflege zukunftsfest machen“ veröffentlicht – darin werden u.a. bessere Arbeitsbedingungen, stärkere Maßnahmen zur Prävention der Pflegebedürftigkeit, eine bürokratiearm ausgestaltete Bundes- sowie Landespflegekammern oder ähnliche Standesvertretungen in den Ländern, bessere Karrierewege für Pflegefachpersonen, eine „Aufwertung der Pflege und Stärkung der Berufsautonomie durch mehr Verantwortungsüberahme mittels Übertragung ärztlicher Tätigkeiten im Sinne von § 64d SGB V entlang der Qualitätsniveaus der Pflegekräfte“ und zum Beispiel eine stärkere Entbürokratisierung und Digitalisierung des Pflegebereichs gefordert. Wie schätzen Sie das Papier insgesamt ein?

Dr. Klapper: Das Papier enthält natürlich einige positive Punkte, allen voran das Statement, dass Pflege gesamtgesellschaftliche Unterstützung braucht. Es gibt wichtige Aussagen, wie dass gute Pflege ihren Preis hat, die Community Health Nurse eingeführt und die Pflegefachpersonen erweiterte Kompetenzen zugesprochen bekommen sollen sowie die Befürwortung der Bundespflegekammer. Als schwach erweist sich das Papier im Hinblick auf die Unterstützung pflegender Angehöriger und der echten Wertschätzung professioneller Pflege. Scharf zu kritisieren ist, dass die CDU/CSU-Fraktion den Gegenstand von professioneller Pflege definiert – das steht ihr nicht zu und wiederholt, was ich eingangs sagte: jeder redet mit, was Pflege ist und an der Stimme der Berufsgruppe und ihrer Fachlichkeit vorbei. Die verhaltene Befürwortung für die Akademisierung spiegelt wider, dass in den langen Jahren der CDU-Regierung nur wenig getan worden ist, um die vom Wissenschaftsrat 2012 empfohlene Quote von 10-20% zu erreichen. Wir liegen aktuell weit darunter. Sehr besorgniserregend ist die Aussage, dass die CDU offenbar bereit ist, den größten Fortschritt für die professionelle Pflege, der in der letzten Dekade zu verzeichnen war und den sie selbst durchgesetzt hatte, wieder zurückzunehmen. Ich meine die generalistische Pflegeausbildung, die für den Anschluss an internationale Standards steht. Bei Wiedereinführung einer gesonderten Ausbildung für die Pflege von Kindern entwickelt sich Deutschland weiter in Richtung Schlusslicht in Sachen professioneller Pflege im internationalen Vergleich. Und schließlich noch ein Wort zur Unterstützung pflegender Angehöriger. Hier ist kritisch anzumerken, dass die Pflegeversicherung weiter als Teilkaskomodell geführt werden soll, mit all den Problematiken, die damit verbunden sind. Liest man das Papier genau, entpuppt sich die Hilfe für pflegende Angehörige weitgehend als bürokratisch und fragmentiert. Dabei brauchen die pflegenden An- und Zugehörigen kontinuierlich fachlich-praktische Unterstützung, um die Aufgabe auch dauerhaft gut bewältigen zu können. Sie dürfen mit der Aufgabe im Alltag nicht so allein gelassen werden. Angesichts der demografischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, muss die häusliche Pflege deutlich visionärer gedacht werden, was ich in dem Papier sehr vermisse.

mhz: Wenn Sie sich die Pflegepolitik der letzten Jahre ansehen, was ist da geschafft worden, was gut für die Profession Pflege ist?

Dr. Klapper: Der größte Fortschritt ist – und das ist mit der Nennung der generalistischen Pflegeausbildung ja schon angeklungen – mit dem Pflegeberufegesetz von 2017 erreicht worden, das 2020 in Kraft getreten ist. Neben der generalistischen Ausbildung sind darin auch die primärqualifizierenden Studiengänge als Berufszugang in den Pflegeberuf verankert. Das war ein erster wichtiger Schritt. Leider hatte man damals noch nicht den richtigen Blick für die Finanzierung. Das wird hoffentlich mit dem Pflegestudiumstärkungsgesetz verbessert, was derzeit in Arbeit ist. Das Pflegeberufegesetz enthält darüber hinaus noch einen weiteren erheblichen Fortschritt für die Pflegeberufe, nämlich die Zuerkennung von Vorbehaltsaufgaben. Somit ist erstmalig ein Bereich beruflicher Eigenständigkeit definiert worden, ein großes Potenzial, das es jetzt durch die professionelle Pflege zu entfalten gilt.

Letztes Jahr ist mit der PPR 2.0 ein Instrument zur Bestimmung der Personalbemessung im Krankenhaus gewählt worden, das bei den pflegerischen Bedarfen der Patienten und Patientinnen ansetzt. Das sehe ich auch positiv. Ähnlich sollten wir in der stationären Langzeitpflege und in der ambulanten Pflege Wege finden, die bedarfsgerechte Pflege ermöglichen.

mhz: Die Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege, Claudia Moll, hat einen Aufruf für „interprofessionelle Teamarbeit im Gesundheitswesen“ gestartet, in dem sie unter anderem feststellt, dass man nie wieder so viele Fachkräfte im Gesundheitswesen haben werde wie jetzt, der Bedarf aber weiter steigen werde. Ziel sei es, den Teamgedanken im Gesundheitswesen über die verschiedenen Berufsgruppen hinweg fest zu implementieren. Diese Ideen sind inzwischen quer durch die politischen Lager vertreten – welcher „Funke“ ist nötig, damit sie in die breite Umsetzung gehen?

Dr. Klapper: Claudia Moll hat absolut recht mit der Aussage, dass wir nie wieder so viele Fachkräfte im Gesundheitswesen haben werden – trotz aller Anstrengungen, für diese Berufe zu werben und Anerkennungsverfahren für internationale Kolleginnen und Kollegen zu beschleunigen. Für die Pflegeberufe bedeutet es, dass die Zusammenarbeit im Pflegeteam auch mit verschiedenen Qualifikationen organisiert werden muss – von der einjährigen Fachassistenz bis zur Pflegefachperson mit Masterabschluss. Gute Beispiele und Pionierleistungen gibt es bereits, hier müssen wir am Ball bleiben und weitermachen. Und mehr Verantwortung für die Pflegefachpersonen verändert auch die Zusammenarbeit mit den anderen Gesundheitsberufen, allen voran mit den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, von denen wir uns mehr Offenheit für die interprofessionelle Versorgung wünschen. Über das Thema wird ja in Fachkreisen seit vielen Jahren gesprochen, Interprofessionalität wird immer wieder eingefordert für eine bessere Versorgung. Es gibt auch bereits erprobte Ansätze, in den Gesundheitsberufen gemeinsam zu lernen bzw. zu studieren, damit dann auch die Teamarbeit besser klappt. Die Teamarbeit auf Augenhöhe sollte aber dadurch unterstützt werden, dass der professionellen Pflege die eigenständige Heilkundeausübung eröffnet wird – ein Thema, für das Claudia Moll jetzt auch erfreulicherweise wirbt.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem medhochzwei Newsletter 20-2023. Abonnieren Sie hier kostenlos, um keine News aus der Branche mehr zu verpassen!

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