Etablierung von Community Health Nursing in Deutschland

18.12.2023, Prof. Dr. Stefan Schmidt, Hochschule Neubrandenburg
Interviews & Kommentare, Pflege

Dr. Bernadette Klapper ist Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe DBfK e. V. Im Interview mit Prof. Dr. Stefan Schmidt, Hochschule Neubrandenburg, berichtet sie davon, welche zentralen Aufgaben Community Health Nurses in der primären Gesundheitsversorgung einnehmen können. Städte und vor allem auch ländliche Regionen könnten durch eine Ausweitung des Kompetenzbereiches und Möglichkeiten des eigenverantwortlichen Handelns für Community Health Nurses stark profitieren.

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Sehr geehrte Frau Dr. Klapper, der DBfK setzt sich seit langem dafür ein, Community Health Nursing auch in Deutschland zu etablieren. Was stimmt Sie optimistisch, dass das gelingen kann?

Dr. Bernadette Klapper: Ich bin überzeugt davon, dass die Herausforderungen in unserem Gesundheitssystem uns früher oder später keine andere Wahl lassen werden. Wir müssen dringend Lösungen finden, wie wir die Versorgungsbedarfe der zunehmend wachsenden Gruppe an chronisch kranken und alten Menschen in unserer Bevölkerung decken – in der Stadt und auf dem Land. Es braucht mehr Gesundheitsförderung, Prävention und Stärkung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung und eine insgesamt gestärkte Primärversorgung. Es reicht ja nicht aus, den hochkomplexen Krankenhaussektor zu reformieren, wie es jetzt von der Regierung vorangetrieben wird. Es muss vielmehr die gesamte Gesundheitslandschaft in den Blick genommen werden. Der Community Health Nurse (CHN) kommt darin eine wichtige Rolle zu, weil sie die Bereiche Pflege und Medizin hervorragend verbinden kann. Das ist wichtig, um im Zusammenspiel mit Gesundheitsförderung und Prävention die Krankheitslast so gut wie möglich zu verringern. Es geht darum, Menschen zu befähigen, gesünder zu leben und – falls sie chronisch erkranken – sie darin zu unterstützen, einen guten Umgang mit ihrer Erkrankung zu finden. So können Krankenhauseinweisungen reduziert und Pflegebedürftigkeit vermieden oder hinausgezögert werden. Eindeutig wünschenswerter wäre es natürlich, wenn nicht erst hohe Not Veränderungen im Gesundheitswesen erzwingt, sondern seine Weiterentwicklung in Richtung besserer Ergebnisse im Vordergrund stünde.

Schmidt: Welche Aufgaben sollen CHN in einem doch ohnehin schon komplexen Versorgungssystem übernehmen?

Klapper: Ein Aufgabenschwerpunkt einer CHN sollte der Gesundheitsförderung und Prävention gewidmet sein, um insgesamt den Versorgungsbedarf zu reduzieren. Das betrifft die Bündelung vorhandener Maßnahmen und das Schaffen eines verlässlichen Zugangs für die Bürger:innen direkt vor Ort. Auch wird die CHN gezielt Maßnahmen ergreifen für Gruppen von Personen, die bestimmte Gesundheitsrisiken teilen, wie zum Beispiel Kinder aus benachteiligten Familien. Sie geht dazu auf diese Gruppen zu, berät und stärkt die Gesundheitskompetenz und setzt sich für förderliche Rahmenbedingungen ein. Ein weiterer Aufgabenschwerpunkt ergibt sich aus der Komplexität des Versorgungssystems selbst. Die CHN sollte dafür sorgen, dass chronisch kranke Menschen vorausschauend und über die verschiedenen Sektoren hinweg begleitet werden und dass sie über die medizinische Versorgung hinaus die Unterstützungsleistungen bekommen, die ihnen ein weiterhin selbständiges Leben mit der Krankheit ermöglichen. Auch bei dieser Gruppe geht es um die Stärkung der Gesundheitskompetenz, um Möglichkeiten der Sekundär- und Tertiärprävention wie auch um die Stützung von Pflegearrangements
in der Häuslichkeit, die womöglich im Krankheitsverlauf erforderlich werden. Schließlich ist denkbar, dass die CHN die medizinische Routineversorgung bei ausgewählten chronischen Erkrankungen – hier kämen vor allem die sogenannten Volkskrankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Frage – übernimmt. Dadurch könnte es gelingen, dass eine schrumpfende Zahl an Hausärzt:innen eine wachsende Zahl an Patient:innen und Versorgungsbedarf bewältigen kann. Eine neue Aufgabenteilung in diesem Sinne wird begünstigt durch die Möglichkeiten der Digitalisierung, die wir in Deutschland noch zu wenig ausschöpfen. Ein interprofessionelles Team, das in der Versorgung seiner Patient:innen flexibel Hand in Hand arbeitet, kann besser mit der Komplexität der Versorgung umgehen als unsere überkommenen Hierarchien zwischen den Berufsgruppen.

Schmidt: Sie fordern dafür eine Ausbildung auf Masterniveau. Warum denken Sie, ist eine so hohe Qualifikation erforderlich?

Klapper: Es ist offenkundig, dass die Rolle, wie ich sie eben skizziert habe, anspruchsvoll ist. Die Arbeit in der Gesundheitsförderung und Prävention und bestimmten Risikogruppen setzt bestimmte wissenschaftliche Kenntnisse in Public Health und Pflege, aber auch aus den anderen Bezugswissenschaften wie den Sozialwissenschaften voraus. Eine CHN sollte außerdem Studien und Daten auswerten können. Hinzu kommt die Kenntnis des Gesundheitssystems, die Befähigung zur Netzwerkarbeit und zur edukativen Leistung in der Stärkung der Gesundheitskompetenz. Die medizinische Routineversorgung chronisch Kranker erfordert vertieftes Wissen im Bereich Krankheitslehre und der Pharmakologie. Vorbilder der Rolle in anderen Ländern setzen die Qualifikation auf
Masterniveau an. Die ersten Studiengänge haben bereits eine über 100-jährige Tradition. Die Frage nach der Ausbildung auf Masterniveau wird meines Erachtens in Deutschland immer wieder gestellt, weil die Akademisierung der Pflegeberufe hierzulande immer noch als nicht selbstverständlich erscheint und sie mit einem sehr verengten Bild von beruflicher Pflege verknüpft wird. Pflege benötigt auf allen Ebenen reflektiertes Handeln anstatt „nur Hände“ oder „Empathie“, wie es häufig aus der Politik und von Akteuren aus dem Gesundheitssystem zu hören ist, die es eigentlich besser wissen sollten. Wir müssen uns doch vielmehr klarmachen, was es für Fähigkeiten und Skills in einer zunehmend komplexen Welt braucht, um die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern und individuell passende Antworten auf Versorgungsbedarfe zu finden, in der zunehmend pflegerische und medizinische Aspekte verschmelzen
und in einem gegebenen sozialen Umfeld zu bearbeiten sind. So gedacht ist die verstärkte Akademisierung der Pflegeberufe und die Qualifikation von fortgeschrittenen Rollen längst überfällig.

Schmidt: In vielen ländlichen Räumen zeigen sich die gravierenden Auswirkungen fehlender Daseinsvorsorge und gesundheitlicher Ungleichheit. Gründe sind fehlende Infrastrukturen, weite Wege zu Versorgungsangeboten und mangelnde Mobilitätsangebote. Sehen Sie für CHN eine besondere Bedeutung oder auch mögliche Herausforderungen für ländliche Räume?

Klapper: In ländlichen Räumen kommt der CHN gerade wegen der genannten Gründe eine besondere Rolle zu. Es spricht viel dafür, Versorgung anders zu organisieren und Angebote der Grundversorgung in sogenannten Primärversorgungszentren zu bündeln. Darin könnten (Haus-)Ärzt:innen mit CHNs und weiteren Gesundheitsberufen als multiprofessionelles Team die Einzugsbevölkerung versorgen. Zugehende Hausbesuche, Vernetzung mit den ambulanten Pflegediensten und dem kommunalen Leben, Integration des Pflegestützpunktes und weiterer Dienste gehören auch in dieses Versorgungsmodell. Der Zugang zum Gesundheitssystem würde erleichtert und ließe sich besser steuern. Wenn Versorgung vorausschauend geplant wird, könnten zudem Hol- und Bringedienste organisiert werden für diejenigen Patient:innen, die nur noch eingeschränkt mobil sind. Bei verstärktem Einsatz telemedizinischer Möglichkeiten könnten Telekonsile erfolgen und die Kommunikation an den Schnittstellen zu anderen Versorgern wie den Krankenhäusern und Pflegeheimen verbessert werden. Es fällt auch in die Rolle der CHN, ein entsprechendes Netzwerk aufzubauen und zu pflegen und alle relevanten Akteure einzubeziehen.

Schmidt: Gibt es denn internationale Forschungsergebnisse, die auf eine Verbesserung gesundheitlicher Versorgung von Patient:innen hindeuten?

Klapper: Einzelergebnisse zu Community Health Nursing sind schwer vergleichbar und setzen sich rasch der Kritik aus, dass international Äpfel und Birnen verglichen werden, weil die Gesundheitssysteme so unterschiedlich sind. Belastbare Ergebnisse können für Deutschland noch nicht vorliegen, weil – ganz im Prinzip des Henne-Ei-Problems – die aktuelle Gesetzeslage es noch nicht ermöglicht, das Profil einer CHN in der skizzierten Weise zu entfalten. Einige Primärversorgungszentren, die Pionierarbeit leisten, haben begonnen, die Rolle zu gestalten. Aber wir stochern natürlich nicht im Ungewissen. Im Einzelnen wurden und werden in Studien der Mehrwert von interprofessioneller Versorgung, von akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen und von Gesundheitsförderung und Prävention herausgearbeitet. Bemerkenswert ist der Befund, dass Deutschland im OECD-Vergleich nur mittelmäßige Gesundheitsergebnisse erzielt, obwohl es zu den drei Ländern gehört, die die meisten Ressourcen ins System geben. Das sollte zwingend zu denken geben, ob wir richtig aufgestellt sind. Die WHO ruft immer wieder zu einer Stärkung der Primärversorgung auf; das gilt auch für Länder der sogenannten ersten Welt. Damit meint sie eine Gesundheitsversorgung, die die Menschen ganzheitlich in den Blick nimmt und Kontinuität und Koordinierung über die verschiedenen Sektoren hinweg gewährleistet. Wichtig ist auch, Art und Weise des Zugangs zur Grundversorgung angemessen zu wählen. Es geht am Ende um einen Paradigmenwechsel: statt ausschließlich um die Reparatur von Krankheiten zu kreisen, sollte die Ausrichtung auf Gesundheit Vorfahrt bekommen.

Schmidt: Frau Dr. Klapper, ich danke Ihnen und Ihrem Team für das Engagement zur Etablierung von CHN in Deutschland und danke Ihnen für das Gespräch.

Klapper: Auch ich danke Ihnen für das Gespräch und für das Interesse an der Community Health Nurse!

 

Dieser Beitrag stammt aus der Case Management 04-2023. Weitere Informationen zum Fachmagazin finden Sie hier.

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